Christliche Kirche in China

Vortrag für „Christen im Öffentlichen Dienst in BW“, Waldhotel  Degerloch, 25.  Juli 2006

 

 

1.Religion in Ostasien unter konfuzianischem Einfluß

 

Die ostasiatischen Länder sind weitgehend durch die Jahrtausende alte chinesische Kultur geprägt. Schon zur Zeit der gewaltsamen Einigung Chinas durch die Qin-Dynastie (220 v. Chr.), führte China Kriegszüge im Norden Koreas. In der Blütezeit der Tang-Dy­nastie (ab 7. Jhdt.) wurde der südkoreanische Staat Shilla engster Bundesgenosse Chinas. Die beiden an­deren koreanischen Staaten verloren ihre Selbstständigkeit. Die chinesische Schrift, die reichen Gedanken chinesischer Philosophie und besonders der Buddhismus prägten auf lange Zeit das Leben Koreas, das unter chinesischem Einfluß zu hoher kultureller Blüte kam. Die Formen der chinesischen hochentwickelten Zivilisation wurden von Korea aus nach Japan weitergegeben. Konfuzianismus, Daoismus und Buddhis­mus, die prägenden Kräfte chine­sischer geistiger und religiöser Welt, sind bis heute in allen drei Ländern wirk­sam, wenn sie sich auch inzwischen nach den Eigenheiten der jeweiligen Nationen weiter entwickelt haben.

Die christliche Mission traf in China, Korea und Japan auf Hochreligionen, die sich nicht durch das Christentum überwinden ließen. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts  blieb die christliche Kirche in den ostasiatischen Ländern eine Minderheit  von höchstens 1% der Gesamtbevölkerung. In Japan hat sich bis heute daran nichts geändert. In Südkorea wuchs  die christliche Kirche seit der Mitte des 20. Jahrhunderts stark an. Heute gehören etwa ein Viertel der Menschen einer der vielen Kirchen an! In China ist seit der Kulturrevolution ebenfalls ein erstaunliches Wachstum zu verzeichnen, jedenfalls in absoluten Zahlen. An­gesichts der Gesamtbevöl­ke­rung von 1,3 Milliarden Menschen ist der Anteil an der Ge­samt­­bevölkerung mit 2-3% allerdings immer noch bescheiden.

Große Unterschiede in der asiatischen Denkweise zum Evangelium sind offensichtlich. Miß­­­erfolge der christlichen Mission in Ostasien erklärte man in der Vergangenheit gern als eine Folge des Konfuzi­anismus, der in China und den beiden anderen Ländern zwei­fellos als Matrix der Kultur wirkt. Tatsächlich gibt es im Konfuzianismus schon früh sä­ku­lari­sie­rende Elemente. Der Konfuzianismus ist eine Lebensphilosophie und es besteht ein weitge­hender Konsens, daß er nicht als Religion  eingestuft werden kann. Aber dessen unge­achtet können wir sowohl in Korea wie in Japan und auch in China eine reiche Religions­geschichte verfol­gen, in der mittlerweile auch das Christentum einen festen Platz einge­nom­men hat. Trotz einer bestimmten skeptischen Grundhaltung, die im Konfu­zianis­mus  konstatiert werden kann, ist die These falsch, daß in den ostasiatischen Kultu­ren ge­ne­rell kein ausreichender religiöser Nährboden vorhanden sei.

Immerhin gibt es genügend Hinweise auf eine skeptische Haltung der Religion gegenüber, besonders unter Konfuzianern, die früher weitgehend die Elite der geistigen und politi­schen Welt Chinas stellten.

Als typisches Beispiel sei ein kleines Gedicht  von Li Shangyin angeführt. Er gehört zu den bedeutenden Lyrikern der Tang-Zeit (7. –9. Jhdt.).

„Wenn im Kaiserpalast Ratgeber unter den Weisen gesucht wurden, auch unter denen, die verbannt waren,/ fand sich im jungen Jia Yi ein ganz außergewöhnliches Talent,/ heim­lich, erbärmlich, mitten in der Nacht trat er vor den Kaiser. Der befragte ihn nicht nach  dem Wohle des Volkes, sondern sprach mit ihm über Geister und die göttliche Welt.“ [1]

Jia Yi, hier genannt Jia Sheng (der junge Jia – er starb schon mit 33 Jahren) war ein Dich­ter, der sich auch als Gelehrter, besonders im Rechtswesen hervorgetan hatte und zur Zeit des Han-Kaisers Wendi (179 n. Chr.) lebte. Tadelnd wird hier hervorgehoben, daß dieser außergewöhnliche Mensch vom Kaiser nicht wegen der Regierungsgeschäfte als Berater herangezogen wird, sondern um ihm Auskunft über die Welt der Geister und Göt­ter zu ge­ben. Das mußte nachts geschehen und Li Shangyin beschreibt es als peinlich und erbärm­lich. Der konfuzianische Hintergrund ist deutlich: Auf metaphysische The­men verschwen­det man keine Zeit. Zwar hatte Konfuzius ihre Bedeutung nicht völlig abgestrit­ten.[2] Aber seine Schüler berichten von ihm, daß er nie darüber sprach.[3] Seine Grundhal­tung, die sich hier in dem Gedicht widerspiegelt, drückt er einmal so aus: „wenn wir nicht (aus­reichend) den Menschen dienen können, was soll man dann Geistern (Göttern) dienen!“ [4]

Das Naheliegende ist zu tun. Es geht um die Welt des Diesseits. Das volle Leben bringt Herausforderungen zur genüge. Darum läßt man sich nicht zu weit auf die Unge­wißheiten der Metaphysik ein. Hier hat der aufgeklärte Humanismus des Konfuzianismus seine Wur­zeln, der sich bis heute in einer weit verbreiteten skeptischen Haltung der Reli­gi­on gegen­über aus­wirkt. Allerdings war diese Skepsis vor allem bei den Eliten der Lite­raten anzu­tref­fen während sich später die Religionen, der Daoismus und Buddhismus im Volke aus­brei­teten. Die trockene, rationalistische Denkweise des Konfuzianismus mit ihrer Beto­nung ethischer Forde­rungen wurde von vielen als zu einseitig empfunden. – Erinnert sei an den Vorwurf des Lyrikers Li Shangyin, der vom Kaiser er­wartet, daß er sich auf die Regie­rungsgeschäfte konzentriert, anstatt windigen re­ligiösen Spe­kulationen nachzugehen. ─ Der aufgeklärte Humanismus ordnete das Zusam­men­leben der Menschen im Staat, in der Familie und sollte sich in der persönlichen Ent­wicklung des „edlen Menschen“ in weiser Er­kennt­nis und in der Praxis seines Handelns auf das „höchste Gute“ hin erfüllen.[5] Allerdings er­wies sich diese Haltung für die Massen der Menschen in den gro­ßen Heraus­forderungen der politi­schen und gesell­schaft­lichen Wirklichkeit und ihren Wirren als unge­nü­gend. Angesichts von Existenznot und Kriegesschrecken suchten sie tiefere Quellen und fanden sie in den Reli­gionen.

Mit tiefen Gedanken bietet das Daodejing (Taoteking) einen anderen Zugang zum Selbst und Weltverständnis. Das Daodejing wird Laozi zugeschrieben, ohne daß die Existenz des Laozi je historisch gesichert werden kann. Hier wird über den Urgrund und das Ziel der Welt, über das Dao [Weg, Sinn, Wort] nachge­dacht. In vielem bietet Laozi ein Gegen­stück zum Konfuzianismus. Alles entspringt der Natur und muß sich auf natürliche Weise erge­ben, nichts darf forciert werden. Gewalt wird von dem Schwachen überwunden. „Von selbst“, aus der Natur ergibt sich die erfor­derte Handlungsweise, nicht aus künstlicher Zi­vi­li­­sation. Johannes Hesse findet im Daodejing eine „Vorausnahme christlicher Grundge­dan­ken“ und nennt Laozi einen „vorchristlichen Wahrheitszeugen.“[6]

Das chinesische Weltverständnis sieht den großen Zusammenhang von „Himmel und Er­de“, d.h. des Kosmos. Der Mensch ist darin nur ein kleiner Bestandteil ist. Er hat teil am Ganzen der kosmischen Natur. Durch sein Verhalten kann er sie stören und Unheil herauf­führen. Die großen Maler Chinas malen in ihren Landschaftsbildern immer wieder den winzigen Menschen, der einsam in der Weite der Unendlichkeit steht und in dem die kos­mischen Kräfte sich wiederfinden, wenn er seine höchste Bestimmung erreichen sollte.

 

Was hier an philosophischer Einsicht und tiefster Erkenntnis gewachsen ist,, hat das Volk im religiösen Daoismus in Riten, Liturgie und praktischen Vollzug übersetzt. Eine Welt von Göttern und Geistern belebt die Natur. Menschen haben sich auf sie einzurichten, um Sünde und Vergehen zu meiden. Diese Religionsausübung nimmt die Entrückungen und Verzüc­kungen der alten schamanischen Priester in ihren Kult auf und übt bis heute eine starke An­ziehungskraft auf  die Menschen aus. Die Volksreligion [im Sinne von folk-reli­gion]findet erst in neuerer Zeit ernsthaftere wissenschaftliche Beachtung, die über blo­ße religi­onswissenschaftliche Beschreibung und Beobachtung hinausgeht.

Fast zur gleichen Zeit wie der religiöse Daoismus findet der Buddhismus von Indien und Zentralasien her kommend in China Eingang und verheißt den Menschen Überwindung des Leides in der Erkenntnis der Ursachen allen Leids, nämlich der Gier und dem Festhal­ten am Äußeren, Sinnenhaften. Im Mahayana kommt der Buddhismus nicht streng for­dernd (wie im Hinayana) nach China, sondern als Gnadenreligion, die allen Erlösung bie­tet, die sich auf seine milde Botschaft einlassen.

Es ist gut nachzuvollziehen, wie diese Religionen den chinesischen Menschen mit ihren Tempeln, Festen und ins Leben greifen­den Ideen näherkamen als der nüchterne Konfuzi­anismus.

Zu den Geheimnissen der Geschichte gehört es, daß in den Zeiten des religiösen Suchens  der christ­liche Glaube in Asien noch nicht in den Blick ge­kom­­men war.

 

2.  Das moderne sozialistische China

 

Länger als eineinhalb Jahrhunderte dauert der mühsame Weg Chinas in die Moderne. Er führt über Kriege, Bürgerkrieg, Revolution, Kulturrevolution und sozialistische Ideologie zu völlig neuen Lebensformen. Diese Geschichte bedeutet auf der einen Seite: Kaskaden von vergossenem Blut, Entbehrungen, Opfer, Verzweiflung, Entrechtung; auf der anderen  Seite:  Fortschritt, eine Grundversorgung für alle, wirtschaftlichen Aufschwung sonder­gleichen (mit einem konstanten jährlichen Wachstum von 9% seit ca. 20 Jahren!), ver­mehr­te Bildungschancen, gesellschaftliche Er­rungenschaf­ten, Chinas Eintritt in die WHO im Jahre 2001, der für China eine Anerken­nung unter den Nationen gleichkommt.  Die Aussicht auf die Olympiade in Beijing im Jahre 2008 läßt die Welt zum Neuen China wallfahren, vor 30 Jahren noch eine völlig unausdenkbare Vorstellung! Das 21. Jahr­hun­dert wird von vielen als das chine­sische Jahrhundert angesehen, in dem die wirtschaftliche und technische Weltmacht China in Asien bestimmend werden wird und überhaupt alle anderen  Staaten überholt.

Schon jetzt ist China zur viertgrößten Handelsnation der Welt aufgestiegen und steht mit 600 Milliarden US$ Devisenrücklagen weltweit an zweiter Stelle. Über viele Jahre sind aus­ländische Devisen in Höhe von insgesamt ca. 1000 Mrd. US$ nach China geflossen, d.h. jährlich über 60 Mrd.. China gilt als das am meisten attraktive Zielland für Direktin­vesti­tionen. Chinas Exporte wie Import haben allein im vergangenen Jahr um 30% zuge­nom­men, dabei erwirtschaftete China einen Handelsüberschuß von 32 Mrd. US$.[7]

Der beispiellose Aufschwung wird überall in den chinesischen Großstädten augen­schein­­lich, besonders natürlich in Beijing und Shanghai. Die Hauptstadt Beijing war schon wäh­rend der frühen Jahre der VRChina eines Großteils ihrer historischen Kulisse beraubt wor­den. Ihre alte Stadtmauer, Stadttore, Jahr­hunderte alte und berühmte Wahrzei­chen, fielen dem Bau von Paradestraßen zum Opfer. Heute sind vom alten Beijing nur noch Parks, Pa­lastbauten und einige Tempel übrig. Die bekannten Hutong-Viertel mit ih­ren engen Gassen, einstöckigen Häusern, die um einen kleinen Hof herum angelegt waren, sind bis auf wenige Ausnahmen abgerissen. An ihre Stelle treten Bürohochäuser, riesige Hotels und Hochblocks mit Wohnungen. Wo einmal die Radfahrer das Sagen hatten, fah­ren heute 2,2 Mill. Autos, bzw. stehen im Zentrum der Stadt im Stau. Zu den Großbauten in Vorberei­tung auf die Olympiade gehört auch eine über-dimensionale christliche Kirche.

Shanghai zählt inzwischen mehr „Wolkenkratzer“ als New York. Die früher im Stadtbild dominieren­den westlichen Großbanken am „Bund“ sind nur noch klägliche Zeugnisse einer vergan­ge­nen Epoche des Kolonialismus, verdeckt von eleganten Hochbauten im alten Zentrum und gegenüber auf der anderen Seite des Flusses im neu entstandenen Stadtteil Pudong. Hochstraßen haben weite Schneisen in die alten Wohngebiete geschla­gen, damit der Verkehr entlastet wird. Die Menschen werden einfach aus ihren Wohnvier­teln ausgesiedelt ohne Rücksicht auf Wege zur Arbeit oder auf ihren bisherigen Erwerb durch den Betrieb von kleinen Restaurants oder Läden. Vor 25 Jahren gab es keine Waren­auslagen in Shanghai. Schau­fenster in den chinesischen Städten waren noch 1980 mit Bret­tern zugenagelt. Heute erscheint das Angebot chinesischer wie auch ausländischer Wa­ren als unbegrenzt, häufig in bester Qualität. Der neue Reichtum verändert das Leben vie­ler Menschen, beson­ders in den Städten. Technische Neuerungen ermöglichen es, Jahr­zehnte einer kost­spie­ligen Entwicklung zu überspringen und teure Investitionen zu ver­meiden. Die Mo­bil­funktechnologie z.B. erspart die schwierige und teure Anlage eines Festnetzes. Heute ist jeder entlegene Winkel in China telephonisch zu erreichen. Nur die ganz Armen besitzen kein Mobilphon.

Großprojekte wie der Staudammbau am Jangtse, der einen Stausee von über 700km Länge schaffen soll, sind bereits in die Endphase gerückt. Millionen von Menschen mußten für den Fortschritt ihre angestammte Umgebung verlassen. Um den ungeheuren Energiebedarf

Chi­nas zu decken und das Land von ausländischen Ölimporten abzukoppeln, sind nunmehr insgesamt 28 neue Atomkraft­werke projektiert. Jedes Jahr werden zwei in Angriff genom­men. Das Risiko ökologischer Gefahren ist einkalkuliert. Katastrophen großen Ausmaßes

werden nicht auszuschließen sein, wie die jüngsten Chemieunfälle mit der Vergiftung des Trinkwassers für ganze Landstriche bis ins russische Ausland gezeigt haben. Der Fort­schritt fordert seinen Preis, nicht allein für China.

In Shanghai fährt die aus Deutsch­land importierte Magnetbahn auf einer Kurzstrecke von der Innenstadt zum Flughafen. Der Traum des Kanzlers Schröder von einem Bau der Mag­netbahnverbindung von Shanghai nach Beijing ebenfalls durch deutsche Firmen ist aus­geträumt. Die Technologie ist mit der Investition in Shanghai nach China vergeben wor­­den. Dort wurde sie angeblich „im Eigenbau“ weiterentwickelt. Die teure Strecke wird Chi­­na selbst bauen. Warum auch die dafür erforderlichen Kosten ins Ausland abfließen zu lassen? Auch die Träume der deutschen Autoindustrie, durch Joint Ven­tures in China mit dem Transfer von Spitzentechnologie deutsche Arbeitsplätze zu sichern, brach­te nur kurz­fristige Gewin­ne, dagegen jedoch einen Transfer von Hochtechnologie an China. Kanz­ler Schrö­der und die Wirtschaftsmanager erwarten auf dem über­di­men­si­onalen „chinesi­schen Markt“  hohe Gewinne. Die Erfah­run­gen mit der Mag­netbahn oder die Präsenz von VW China etc. weisen daraufhin, dass es dabei gar nicht so traumhaft zugehen mag.[8]

Die Einschätzung des „unendlichen Marktes“ in China steht auf zweifelhaftem Fundament und übersieht die Tatsache, daß das durchschnittliche Pro-kopf-Einkommen in China nicht höher als 1000,- US$ beträgt und überdies auf die Bevölkerung ungleichmäßig verteilt ist.

 

China steht trotz eines erheblichen Potentials noch langfristig vor größten Problemen. Das hat die Tagung  soeben beendeten 10. Nationalen Volkskongresses bestätigt.

Der Mi­nisterpräsident, Wen Jiabao, hat unmißverständlich auf  die Gefahren einer unglei­chen Entwicklung hingewiesen. 8oo Mill. Menschen leben auf dem Lande und sind von der Landwirtschaft abhängig. Diese aber erbringt nur 15% des Bruttoinlandsproduktes, wäh­rend derAnteil der Industrie 53% beträgt.[9] Etwa 150 Millionen Menschen sind ar­beits­los. Ebenso viele verdingen sich als „Wanderarbeiter“ auf den Großbaustellen, wo sie unterbezahlt und nicht sozial abgesichert auf Zeit ausgebeutet werden. Sozialen Spreng­stoff  birgt die Stillegung unproduktiver Staatsbetriebe, deren Arbeiter einfach entlassen wer­den, oft ohne daß neue Arbeit für sie vorhanden ist. Im Jahr zählte man jetzt 86 000 Pro­testakti­onen, die auf die angespannte Sozialfrage sowie die ungesicherte Umwel­tsitu­ation zurück­zuführen sind! An Unruhen und Aufständen sind alle früheren Dynastien und Herrschafts­systeme in China gescheitert. Darum breitet sich Sorge in den Führungsetagen des Landes aus. In den großen Städten und den entwickelten Küstenprovin­zen findet sich zwar zum Teil ein großer Wohlstand. Doch im Westen Chinas, in abgelegenen Bergregio­nen oder Landstrichen ohne Zugang zu Transportverbindungen zu den großen Städten sind die Men­schen so arm, daß sie im Jahr nicht mehr als € 100,- verdienen.[10] Der Natio­na­le Volkskon­gress hat Maßnahmen angekündigt, das Wohlstandsgefälle zwischen Stadt und Land zu ver­ringern. Ein Subventionsprogramm wurde angekündigt, das Bauernland, sozi­a­len Netzen, Ausbildung und technologischer Erneuerung zugute kommen soll.

 

Der eingangs zitierte Lyriker Li Shangyin wäre glücklich, daß hier die Belange des Volks zur Sprache kommen und behandelt werden. Allerdings gibt es gravierende Defizite in Chi­­na, die über die wirtschaftlichen Probleme hinaus wirksam sind und die hier nicht im einzelnen behan­delt werden können: Korruption[11], Menschenrechtsfragen, Fragen zur Re­ligionsfreiheit,[12] Todesstrafe[13], Einschränkung der Meinungs­frei­heit, Überwachung des In­ternets, ideolo­gi­sche Vorherrschaft im Partei­staat usw. Das Leben der Menschen wird hier­von berührt, aber nicht jeder Chinese fühlt sich dadurch eingeschränkt. Viele sind  über­zeugt, daß ihr Staat im Vergleich zu früher unschätzbare Errungenschaften aufzu­weisen hat, gewisse „Einschränkungen“ werden im Fortgang der Entwicklung eliminiert werden.

Aber der Erfolg der Wirtschaftsreformen  ist großen Risken ausgesetzt. Man kann nur hof­fen, daß in der weiteren Zukunft eine stabile Entwicklung gewährleistet bleibt!

 

3.      Die Kirche in der Volksrepublik China[14]

 

3.1.  Christen in der öffentlichen Wahrnehmung in der VRChina    

 

Angesichts der Gefährdungen und sozialen Spannungen in China bemüht sich die Regie­rung in China um einen Ausgleich. Ein herausragendes Thema, das in den Medien und in zahl­reichen Tagungen während des vergangenen Jahres  immer wieder betont wurde, ist  die

 „harmonische Gesellschaft.“[15] Was vor wenigen Jahren nicht vorstellbar war, ist jetzt eine Selbstverständlichkeit: den Religionen wird wichtige Rolle im Zusammenspiel der Gesell­schaft zugestanden. Ausdrücklich erwähnt sind dabei auch die christlichen Kirchen, die mit der Nächstenliebe ein Element einbringen, das eine Kombination der chinesischen Kultur und des Christentums möglich machen könne.

     

Nach einer langen Zeit von antireligiöser Propaganda, bis hin zur Verfolgung und  Unterdrük­kung ist das Christentum eine anerkannte Größe in China geworden. Kirchenge­bäude, die frü­her fast nur hinter Mauern versteckt wurden, stehen jetzt häufig wieder frei sichtbar im Stadt­bild. Neue Kirchen werden gebaut und alte, bislang beschlagnahmte Kirchengebäude weiter­hin zu­rück­gegeben. In Shanghai gibt es heute 183 evangelische Kirchen und gottes­dienstliche Stät­ten! 17 theologische Seminare und Bibelschulen in den verschiedenen Pro­vin­zen mit 2700 Stu­denten sorgen für theologischen Nachwuchs. Etwa die Hälfte der Theo­­logiestudenten sind junge Frauen. Pfarrer und kirchli­che Mit­arbeiter werden drin­gend gebraucht. Seit 1986 wur­den 40 Millionen Bibeln und Gesangbücher gedruckt und in den Gemeinden verbreitet, darun­ter auch Bibeln in Sprachen die Nationalen Minderheiten in China.[16]

Nach offiziellen Angaben aus China beträgt die Zahl der evangelischen Christen etwa 18 Millionen, inoffiziell schätzt man sie auf ca. 30 Millionen. Die Kirche wächst unaufhaltsam, besonders in den Landgebieten.

In der katholischen Kirche rechnet heute man mit ca. 12 Millionen Christen. Evangelischerseits finden sich heute drei unterschiedliche Gruppierungen in China:

 

3.2. Der Chinesische Christenrat und die Drei-Selbst Bewegung

 

Die Kirchen, zu denen wir unmittelbaren Zugang haben und mit denen wir eine partner­schaft­liche Beziehung pflegen können, sind im Chinesischen Christenrat (CCC) zu­sammengefaßt. Sie sind in der Regel aus der Arbeit westlicher Missionen entstanden. Seit 1957 sind diese Kirchengemeinschaften, die ihrer Herkunft nach Anglikaner, Presbyterianer, Methodisten, Lu­theraner usw. waren, in einer Kirche  vereint, die sich nach-konfessionell nennt. Die her­kömmlichen Unterschiede treten zurück, wenn sie auch noch bei einzelnen, besonders bei älteren Theologen gepflegt werden. Genau genommen bilden sie keine verfaßte Kirche als Institution mit einer festen, für alle geltenden Kirchenordnung, sondern eine Gemeinschaft von Einzelgemeinden, die im „Rat der Christen“ (CCC) Mitglieder sind. Das Ziel der Grün­dung einer „Chinesischen Kirche Christi“ konnte noch nicht erreicht werden. Bevor der CCC 1980 die Kirchenleitung übernahm und pastorale Aufgaben der Betreuung der Gemeinden, Versorgung mit Bibeln und Gesangbüchern, die Ausbildung von Theologen und kirchlichen Mitarbeitern usw. in eigener Zuständigkeit durchführte, hatte die Patriotische

 

Dre­­i-Selbst Bewegung (PDSB) die evangelischen Kirchen vor den staatlichen Behörden vertreten und teilweise auch die Funktion der Kirchenleitung übernommen. Dieser Bewegung ist es zu ver­danken, daß bald nach der Gründung der Volksrepublik China das Modell einer Art „Konkor­dat“ mit dem Staat zustande kam. Federführend war Wu Yaozong, ein YMCA-Sekretär. Wu hatte im Union Theological Seminary in New York Theologie studiert. Zunächst war er lei­denschaftlicher Pazifist. Als Japan China  1931 und vollends 1937 in den 2. Weltkrieg stürzte und weite chinesische Landstriche besetzte, gab Wu den Pazifismus auf und befürwortete als glühender Nationalist den Krieg mit Japan. Nach 1945 erkannte er die weitgehende Abhän­gig­keit der chinesischen Kirchen von den Missionen und westlichen Kirchen, von ihren Mis­sionaren und finanziellen Zuwendungen. Darin sah er eine Gefahr der Verfremdung des Chri­stentums, das in China überwiegend nur in westlicher Gestalt auftrat. Zugleich näherte er sich zunehmend der kommunistischen Revolution Mao Zedongs, während die Nationalregierung unter Tschiang Kaishek nach seiner Meinung einen Ausverkauf Chinas an die westlichen Mächte betrieb. Nach der Revolution verhandelten er und andere Kirchen­führer für die evan­gelischen Gemeinden mit Vertretern der neuen Regierung, vor allem mit dem Ministerpräsi­denten Zhou Enlai. Die Kirche fand Anerkennung im Neuen China unter der Voraussetzung, daß sie den sozialistischen Staat anerkennt, sich für den Aufbau des sozialistischen Chinas einsetzt und den Imperialismus bekämpft. Tatsächlich war das alte China halbwegs eine Ko­lonie der westlichen Mächte und noch in das 20. Jahrhundert hinein von ihnen weitgehend abhängig in Fortsetzung und nur geringer Abänderung der imperia­listi­schen Politik des 19. Jahrhunderts. Die Existenzgrund­lage für die Kirche konnte gerettet wer­den, wenn sie sich von der Abhängigkeit  vom Westen, seinen Missionen und Kirchen lossagt und auf ihrer Selbständigkeit (Finanzen, Kirchenlei­tung und Mission) besteht. Diese Ziele suchte die Patriotische Drei-Selbst Bewegung zu verwirklichen.

Der CCC arbeitet eng mit der PDSB  zusammen. Der Preis ist eine relativ enge Bindung an den Staat. Sie bedeutet nicht, daß diese Kirche in jeder Beziehung eine Marionette der Regie­rung ist. Kirchenvertreter betonen, daß sie in Glaubens- und theologischen Fragen frei sind, in praktischer Hinsicht aber am gesellschaftlichen Aufbau in China teilhaben. Tatsächlich sind die Gemeinden überwiegend konservative, bibeltreue Christen. Da es trotz der Bemü­hungen an den Theologischen Seminaren noch immer an qualifizierten kirchlichen Mit­arbei­tern man­gelt, werden verantwortliche Laien geschult und übernehmen in Hingabe und vollem Einsatz die Leitung von Gemeinden, oft unter sehr schwierigen Bedingungen. Es ist dringend notwen­dig, die immer weiter wachsenden Gemeinden von neuen Christen zu unterweisen, um so dem Sektenunwesen, das in China auch grassiert, entgegenzutreten. Glaube und christliche Le­bens­führung müssen unbedingt vertieft werden, damit das Wachstum nicht als ein rasches Strohfeuer zunichte wird. 

Den Christen ist zugestanden, daß sie sich in Kirchen zu Gottesdiensten versammeln. Straßen­mis­­sion, Öffentlichkeitsarbeit in den Medien, Einflußnahme im Bildungs- und Gesundheits­we­sen ist den Religionen in der chinesischen Verfassung verwehrt. Aber es gib seit 20 Jahren eine organisierte gesellschaftsdiakonische Arbeit, die auf christliche Initiativen zurückgeht. Sie be­treibt als selbständige Stiftung, Amity Foundation,  Entwicklungsarbeit in verarmten länd­lichen Bezirken, bildet Arzthelfer aus und hat sich während der letzten Jahre der in China viel zu lange tabuisierten Aidsopfer und der Aids-Prävention angenommen. Übrigens arbeitet auch die große Druckerei in Nanjing, in der für die Kirche chinesische Bibeln usw. hergestellt werden, zur Amity Foundation. Die relativ kleine Stiftung hat in China unter der Vielzahl der NGOs einen guten Namen.

 

 

3.3 Die nicht registrierten Gemeinden

 

Die zweite hier zu nennende evangelische Gruppe ist vielgestaltig und nicht leicht zu be­schrei­ben. Ihr gehören Gemeindegruppen an, die sich spontan zusammen gefunden haben, ohne die Leitung von Pfarrern oder ausgebildeten kirchlichen Mitarbeitern. Ihre Frömmigkeit

ist lebendig, vom Geist getrieben. Viele dieser Gruppen können dem Typ der Pfingstkirchen zu­gerechnet werden, manche bewegen sich auch am Rande des Schwärmertums. Die Zahl ihrer Mitglieder ist sehr groß, aber kaum präzise zu nennen. Sie sind in Netzwerken, die sich über ganz China erstrecken, mit einander verbunden. Reisende Prediger versorgen diese Ge­meinden. Manche sprechen von ihnen als „Hauskirchen“, als kämen sie in Privathäu­sern zu­sammen. In Wirk­lich­keit versammeln sie sich in großen Sälen oder selbstgebauten Kirchen. Viele bemühen sich darum, von den Behörden registriert zu werden. Dafür gibt es bestimmte Kriterien, die sie zum Teil nicht erfüllen können. Sie befinden sich somit in einem rechts­frei­en, letztlich illegalen Zustand, da sie keine offizielle Registrie­rung vorweisen kön­nen. Man­che von ihnen lehnen grundsätzlich die Registrierung ab, weil sie nicht unter staat­licher Kontrolle leben wollen oder grundsätzlich dem sozialistischen System ablehnend gegen­über­stehen.

Mit dem CCC und der PDSB pflegen viele dieser Gemeinden eine freundschaftliche Be­zie­hung. Sie erhalten hier ihre Bibeln und christliche Literatur sowie Arbeitshilfen für Pre­diger und Gemeindemitarbeiter. Andere stehen CCC und PDSB mißtrauisch gegen­über.

Zumeist tolerieren die Behörden diese Gruppen, da sie sich keinerlei Übertretungen staatli­cher Ordnungen zuschulde kommen lassen. Überhaupt gilt in China bei Kriminalisten die Erfah­rung, daß Christen unbescholtene, vorbildliche Bürger sind.

Doch kommt es örtlich auch zu Übergriffen durch die Behörden, besonders wenn Beamte

ideologische, marxistisch geprägte Vorurteile gegenüber der Religion haben. In sol­chen Fällen sind Christen aus den nicht registrierten Gemeinden gefährdet und können schwerem Unbill ausgesetzt sein. Denn Registrierung bedeutet keineswegs nur Kontrolle durch den Staat, son­dern auch einen anerkannten Rechtsstatus. Häufig erfahren wir von der Festnahme von Predi­gern oder Gemeindeleitern und ihren Helfern, von Unregelmäßigkeiten der Ge­richte, die oft sogar noch mit Folter und erpreßten Geständnissen arbeiten. Hier gibt es echte Märtyrer  –  nicht wenige, von denen wir nie etwas hören.[17] Trotz solcher möglichen Über­griffe wachsen diese Gemeinden weiterhin. Oft geschieht das unter dem Einfluß von Heilungserfahrungen.

Die Verkündigung in dieser Gruppe von Gemeinden ist schlicht und biblisch, manchmal auch biblizistisch eng und nach theologischen Begriffen anfechtbar. Doch wirkt sie im Kontext dieser einfachen Menschen kraftvoll, indem sie einen neuen Sinn für ihr Leben vermittelt.

 

3.4. Die „Kulturchristen“         

Seit der Öffnung Chinas    nach der Kulturrevolution hat sich eine neue Welt für die chinesische Bevölkerung aufgetan, vor allem für die Jüngeren, die alles, was sich außerhalb Chinas zuge­tra­gen hat, nicht selbst erfahren konnten. Sie waren innerhalb ihres offiziellen, sozialistischen und  ideologisch gepräg­ten Bildungssystem aufgewachsen. Nachdem ihnen aber der unmittel­ba­­re Zugang geöffnet war, drangen sie darauf, sich selbst zu orientieren und zu prü­fen, was außerhalb Chinas unter völlig anderen Voraussetzungen gedacht wird und sich dort als Le­bens­s­­grundlage bewährt. Dabei stießen junge Intellektuelle, besonders an den Universitäten, auf philosophische klassische und zeitgenössische Werke, zugleich auch auf Publikationen be­kannter Theologen z.B. Paul Tillich, Karl Rahner, Jürgen Moltmann u.a.. Sie begannen, die Bibel zu lesen und wurden aus interessierten, mit christlichen Gedanken sympathisierenden Lesern zu Christen. Zu diesen Menschen gehören Philosophie-Professoren, Angehörige ande­rer Fakultäten und Intellektuelle. Ihnen gemeinsam ist die Erfahrung, daß sie bei ihrem Stu­dium mit der anfänglichen Zielsetzung, andere Kulturen verstehen zu lernen, zu Christen geworden sind. Es stehen keine Zahlen zur Verfügung. Sicherlich handelt es sich um eine Min­derheit. Aber sie veröffentlichen Übersetzungen von Philosophen und Theologen in einer eigenen Zeitschrift und anderen Publikationen, auch lassen sie ihre Erkenntnisse in Vorlesun­gen und Seminare einfließen, immer unter dem erklärten Ziel: man muß die geistigen Kräfte der westlichen Län­der untersuchen und verstehen, um wirklich mit ihnen umgehen zu können. Das legitimiert sie im Rahmen der Universität für ihre Arbeit. Ihr christlicher Wirkungskreis ist trotz ihrer relativ geringen Zahl nicht klein, zumal sie einen regen Austausch untereinander halten.

Die Bezeichnung „Kulturchristen“ lehnen sie als unzutreffend ab. Sie wollen einfach Christen sein, auch wenn sie sich nicht für eine Konfession oder Kirche als Institution entscheiden. Das intellektuelle Niveau der beiden anderen Gruppen in China ist ihnen nicht gemäß, auch lassen sie sich in der Regel nicht taufen. Doch verstehen sie sich als Jünger Christi und wollen in sei­nem Geist in China an ihrem jeweiligen Ort tätig sein.

 

4.      Theologische Herausforderungen

 

Seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts erfährt in der chinesischen Christenheit die Frage große Beach­tung, wie das Evangelium in China zu verkündigen ist, damit es nicht in westlicher Form als ein Fremdkörper empfunden wird. An dieser Fragestellung war vor 1200 Jahren die Nestorianerkirche in China gescheitert, aus dem gleichen Grunde letztlich kam die römisch-katholi­sche Mission vor 200 Jahren zu einem abrupten Ende.

Es ist selbstverständlich, daß Verkündigung nie in einem luftleeren Raum stattfindet. In jeder Predigt geht es darum, Menschen in ihrer spezifischen Situation anzureden. Dabei sind kulturelle Besonderheiten von großer Wichtigkeit. Man hat diese Notwendigkeit in der Missionswissenschaft Indigenisierung, Bodenständigkeit oder Inkulturation ge­nannt. Da es nicht nur um Einfühlung in kulturelle Gegebenheiten geht, sondern auch um die gesellschaftlichen oder politischen Voraussetzungen, spricht man umfassend von Kon­tex­tualisierung. Menschen werden in ihrem jeweiligen Kontext angesprochen, der Kultur, Tradition und äußere Lebensumstände umfaßt. Diesem theologischen Problem liegt die Erkenntnis zugrunde, daß immer und überall, wo das Evangelium Ausdruck im Glauben und Leben findet, eine spezielle Zuspitzung erfolgt, die es an dieser Stelle aktualisiert. Das Wort ward Fleisch. Ohne die Inkarnation wird Glaube eine leeres Glasperlenspiel.

Wie versucht man heute in  der chinesischen Christenheit, diese Frage zu lösen?

 

4.1 Die „offizielle Kirche“ (CCC und PDSB)

 

 In der Kirche, die auf die ökumenische Missionsbewegung zurückgeht, wurde bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts über eine China angemessene Verkündigung nach­gedacht. Die Frage stellte sich immer dringender angesichts des wachsenden Nationa­lis­mus und der anti-religiös ausge­rich­teten Gegenbewegung gegen Mission und Kirche. Sie kulminierte in der kommuni­sti­schen Revolution. Das Christentum wurde aufgrund der un­glücklichen Verknüpfung mit der westlichen Expansion und dem Kolonialismus als ein Fremdkörper empfunden. Darum suchte die Kirche nach einer genuin chinesischen Form der christlichen Verkündigung und der Verwirklichung einer chinesischen Kirche.

Auf der einen Seite wird geprüft, ob es in der überlieferten Denkweise, in der reichen Phi­lo­so­phie und den Religionen Chinas Elemente gibt, die dem Evangelium verwandt sind.

Die Voraussetzung dafür ist die Überzeugung, daß Gott sich nie aus der Geschichte der Menschheit zurückgezogen hat. Christus, der Herr der ganzen Welt, des Kosmos, wie er im Neuen Testament bekannt wird, ist auch schon vor unserer Zeit in China gegenwärtig und wirksam gewesen.

Auf der anderen Seite geht es darum, daß das Christentum auch in gesellschaftlicher und politischer Hin­sicht auf die bestehenden Herausforderungen ausgerichtet  wird. CCC und PDSB setzen hier deutliche Akzente. Denn die Aufgabe der PDSB ist, die Loslösung der chinesischen Kirche aus der Abhängigkeit von ausländischen Einflüssen. Das gilt in beson­derem Maße von der Theologie. Sie soll bei aller Wahrung des Kerns des Evangeliums eine chinesische Gestalt annehmen. Dazu wurde im Jahre 2000 von Bischof  K.H. Ting eine Bewegung angestoßen, die die Chinesische Theologie weiterentwickeln soll.[18] Legi­tim und notwendig ist diese Initiative, indem sie zu einer zeitgemäßen biblischen Exegese führt. Bewährte wis­sen­schaft­liche Erkenntnisse, die in China oft noch nicht wahrgenom­men werden, dürfen in der Neuzeit angesichts von Säkularisation und höherem Bildungs­niveau nicht einfach ignoriert werden.

Darüberhinaus aber wird hier der Versuch unternommen, Kirche und Verkündigung auf die politische Situation einzustellen. Es geht im wesentlichen um eine politische Theolo­gie. Wichtige überlieferte Aussa­gen sollen überprüft werden.

Gott ist die Liebe. Das gilt als Kern und Ziel des Evangeliums. Dementsprechend, fordert man, müßten juridische Kategorien in China zurücktreten. Sünde und das biblische Ver­stän­dnis der menschlichen Möglichkeiten galten schon immer in China als schwierig zu vermitteln. Das konfuziani­sche, optimistische Menschenbild wehrt sich dagegen. Im Sozi­alismus fordert es noch mehr zum Widerspruch auf. Nicht daß Sünde völlig geleugnet wer­den soll. Doch fordert man, daß z.B. die Rechtfertigungslehre neu interpretiert wird. Ange­messen sei im heutigen China nicht so sehr „Recht­fertigung allein aus Glauben,“  sondern „Rechtfertigung aus Liebe“ und ihren tätigen Einsatz. In den Gemeinden dürfte es aller­dings nicht einfach sein, diese neuen Erkenntnisse durchzusetzen. Das letzte Wort ist somit in dieser Sache noch nicht gesprochen.

Ein wichtiger Akzent ist die Verwirklichung christlichen Glaubens im praktischen Leben. Christliche Ethik erfordert Teilnahme an gesellschaftlichen Prozessen. Im Alltag der ein­zelnen Christen und im Engagement der chinesischen Gemeinden wird Gottes Liebe be­zeugt. Institutionell nimmt sie durch die Amity Foundation in Zusammenarbeit mit der Öku­me­ne in eindrucksvoller Weise Gestalt an. Man sollte nicht übersehen, daß der Auf­weis von „guten Werken“ in der sozialistischen, säkularen Umwelt apologetischen Cha­rakter hat und einer Art Rechtfertigung religiöser Existenz dienlich sein kann. Der politi­sche Charakter in PDSB und CCC allerdings entspringt eindeutig auch dem vorherr­schen­den chinesischen Patriotismus.

 

4.2 Die nicht registrierten Gemeinden

 

Es dürfte schwierig sein, für diese Gruppe eine einheitliche theologische Ausrichtung zu konstatieren. Bei aller Verschiedenheit der Gemeinden ist aber allen gemeinsam eine Be-tonung persönlichen Glaubens zuzuschreiben. Es geht vor allem um das Heilsangebot in der Verkündigung des Evangeliums an jeden einzelnen und eine entsprechende  Spiritua­lität. Mit dieser Fröm­migkeit verbindet sich, daß das praktische Leben, die Sorgen und Nöte der Menschen Beachtung finden. Viele dieser Gemeinden sind unter dem Eindruck von praktischer Näch­stenliebe entstanden. Oft sind auch Heilungserfahrun­gen ein entschei­dender Anstoß dafür gewesen, daß Menschen, z.T. alle Dorfbewohner zu Christen gewor­den sind. Die missiona­rische Kraft dieser Gemeinden zeigt sich in ihrem erstaunlichen Wachs­tum, das immer noch fortschreitet. Eine ausgeprägte theologische Reflexion ist kaum zu erkennen, zumal die Möglichkeiten für eine eigene theologische Ausbildung fast völlig eingeschränkt sind. Sie erfolgt am ehesten in Gemeinde­-Seminaren und kurzen Frei­zeiten, sofern über­haupt möglich.

 

 

4.3 Die „Kulturchristen“

 

Diese Gruppe besteht aus einzelnen Intellektuelle, von denen die meisten jeweils ihren in­dividuellen Ansatz gefunden haben. Ihnen gemeinsam ist die Erfahrung der Entdeckung  von etwas Neuem im Evangelium, das sie in dieser Weise in China nicht wahrnehmen konnten. Ihr Ansatz richtet sich nicht unmittelbar auf den einzelnen Menschen, sondern vielmehr auf die größere Dimension der chinesischen Wirklichkeit und ihrer geistigen Grundlagen. Die radikale Herausforderung z.B. der Zusammenfassung von Religion bei Tillich, versuchen sie weiterzugeben: „Was mich unbedingt angeht“[19] Angesichts des Tur­bokapitalismus mit sozialistischem Anspruch, angesichts der einseitigen Konzentration auf die technische Welt, angesichts des darauf basierenden Materialismus, der die Menschen in den Bann schlägt, suchen sie mit dem Geist des Evangeliums eine Erneuerung Chinas und seiner Menschen zu verwirklichen, die sich in mancher Hinsicht auch mit den Kräften der alten chinesischen Kultur verbinden läßt. Dabei nehmen sie die gegenwärtige sozio-politi­sche Situation und ihre Defizite ernster als vielleicht beide anderen Gruppen. Ihr Beitrag könnte für die weitere Entwicklung des Landes und seiner Kirche von entscheidender Bedeutung werden.

Abschließend ist zu sagen, daß in der chinesischen Christenheit, die katholische einbe­grif­fen, eine Vitalität christlichen Lebens und der christlichen Hoffnung zu konstatie­ren ist, die eine Müdigkeit oder Resignation, wie sie in Europa in Erscheinung tritt, beschämt. Auf jeden Fall ist die These widerlegt, nach der in Ostasien keine religi­öse Matrix vorhanden ist, auf der Glau­­­be und Leben sich entwickeln können. Das Christen­tum erweist sich als eine lebendige Kraft in einer Umwelt, die in vieler Hin­sicht ihrer Ent­wicklung entgegen­steht und sie bedroht. Es ist innerhalb des politischen und gesell­schaft­lichen Kontextes nur von einer Minderheit getragen und wird sich kaum ein­mal mehrheitlich durchsetzen kön­nen. Aber sein Beitrag aus der Wirklichkeit des Evangeliums bleibt nicht unbeachtet.

 

                                                                                                               

 

[1] Li Shangyin, Jia Sheng, in: Tang Shi san bai shou, Lianyi shudian chuban, Hongkong 1971, S. 161 

 

 

 

[2] Lunyu, (Gespräche des Konfuzius), VI,20  er leugnet nicht ihre Existenz, aber er verlangt Distanz.

 

[3] Lunyu, VII,20

 

[4] Lunyu,  XI, 11

 

[5] Daxue, (Große Lehre), 1, 1

 

[6] Johannes Hesse, Lao=tse, ein vorchristlicher Wahrheitszeuge, Basler Missionsstudien, Basel 1914, S. 56. Er stellt dem Text viele biblische Zitate zur Seite, deren Inhalte er im Laozi gegeben sieht. Dabei folgt er Richard Wilhelm und anderen christlichen Interpreten, die sich über den chinesischen Kontext hinwegsetzen. Grundsätzlich aber bleibt die Aufgabe für eine chinesische Theologie bestehen, sich mit dem Daodejing in positiver Weise auseinanderzusetzen

 

[7] vergl.  China Wirtschaft, WWW. Auswärtiges Amt, Länderinfos, März 2005

 

[8] Georg Blume, Schnell und ohne Skrupel, Die Zeit, 23.02. 2006, Nr.9

 

[9] auf den Dienstleistungssektor entfallen 32%. Vergl. China Wirtschaft, a.a.O.

 

[10] Johnny Erling, China auf Schleuderkurs, Der Standard, 15.3. 2006 – Ein Viertel aller Bauern erwirtschaftet am Tag nicht mehr als 1 US$. Deutschlandfunk, 17.3. 2006

 

[11] Der Bericht des Obervolksstaatsanwalts erwähnt 40 000 Korruptionsfälle durch öffentliche Bedienstete im Jahr 2005. vergl.: Chinas Staatsanwaltschaften verstärken Kampf gegen Korruption. China.org.cn, 12.3.06. 

 

12] siehe unten

 

[13] Der höchste Richter bestätigt vor dem Nationalen Volkskongress, daß im vergangenen Jahr 8000 Menschen hingerichtet wurden. Die Todesstrafe wird auf Mord und insgesamt Tatbestände angewendet. Die Hälfte sind keine Gewaltverbrechen. vergl.: China besteht auf  Todesstrafe, Norddeutsche Neueste Nachrichten, 13.3.06Nicht übersehen werden darf allerdings die Tatsache, daß China seit mehr als 15 Jahren das Rechtswesen re­formiert. Ein ständiger Austausch erfolgt z.B.mit Rechtsexperten der Bundesrepublik. Deutliche Fortschritte sind bereits erzielt worden. Die flächendeckende Durchsetzung solcher Reformen erfordert noch viel Zeit 

 

[14]  Hier kann aus Gründen der Konzentration nur über die evangelische Kirche berichtet werden.

 

[15] Hierzu ausführlich  Roman Malek, Der Aufbau einer harmonischen und stabilen Gesellschaft und die Rolle der Religionen, China heute XXIV, Nr.6, S. 195ff.;  In der evangelischen Kirchenzeitung Tian Feng, finden sich zahlreiche Hinweise darauf, daß die Diskussion auch in der Kirche Chinas aufgenommen worden ist. Auf Einzelnachweise sei hier verzichtet.

 

[16] Koreaner, Miao, Zhuang, Li  und andere. In den Nationalen Minderheiten finden sich viele Christen.<//font>

 

[17] Ähnlich übrigens die Situation der katholischen „Untergrundkirche“, die auch „rom-treue“ Kirche genannt wird).

 

 

[18] “Reconstruction of theological Thinking“

 

[19] "The ultimate concern“