Christliche Kirche in China
Vortrag für „Christen im Öffentlichen Dienst in BW“, Waldhotel Degerloch, 25. Juli 2006
1.Religion in Ostasien unter konfuzianischem Einfluß
Die ostasiatischen Länder sind weitgehend durch die Jahrtausende alte chinesische Kultur geprägt. Schon zur Zeit der gewaltsamen Einigung Chinas durch die Qin-Dynastie (220 v. Chr.), führte China Kriegszüge im Norden Koreas. In der Blütezeit der Tang-Dynastie (ab 7. Jhdt.) wurde der südkoreanische Staat Shilla engster Bundesgenosse Chinas. Die beiden anderen koreanischen Staaten verloren ihre Selbstständigkeit. Die chinesische Schrift, die reichen Gedanken chinesischer Philosophie und besonders der Buddhismus prägten auf lange Zeit das Leben Koreas, das unter chinesischem Einfluß zu hoher kultureller Blüte kam. Die Formen der chinesischen hochentwickelten Zivilisation wurden von Korea aus nach Japan weitergegeben. Konfuzianismus, Daoismus und Buddhismus, die prägenden Kräfte chinesischer geistiger und religiöser Welt, sind bis heute in allen drei Ländern wirksam, wenn sie sich auch inzwischen nach den Eigenheiten der jeweiligen Nationen weiter entwickelt haben.
Die christliche Mission traf in China, Korea und Japan auf Hochreligionen, die sich nicht durch das Christentum überwinden ließen. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts blieb die christliche Kirche in den ostasiatischen Ländern eine Minderheit von höchstens 1% der Gesamtbevölkerung. In Japan hat sich bis heute daran nichts geändert. In Südkorea wuchs die christliche Kirche seit der Mitte des 20. Jahrhunderts stark an. Heute gehören etwa ein Viertel der Menschen einer der vielen Kirchen an! In China ist seit der Kulturrevolution ebenfalls ein erstaunliches Wachstum zu verzeichnen, jedenfalls in absoluten Zahlen. Angesichts der Gesamtbevölkerung von 1,3 Milliarden Menschen ist der Anteil an der Gesamtbevölkerung mit 2-3% allerdings immer noch bescheiden.
Große Unterschiede in der asiatischen Denkweise zum Evangelium sind offensichtlich. Mißerfolge der christlichen Mission in Ostasien erklärte man in der Vergangenheit gern als eine Folge des Konfuzianismus, der in China und den beiden anderen Ländern zweifellos als Matrix der Kultur wirkt. Tatsächlich gibt es im Konfuzianismus schon früh säkularisierende Elemente. Der Konfuzianismus ist eine Lebensphilosophie und es besteht ein weitgehender Konsens, daß er nicht als Religion eingestuft werden kann. Aber dessen ungeachtet können wir sowohl in Korea wie in Japan und auch in China eine reiche Religionsgeschichte verfolgen, in der mittlerweile auch das Christentum einen festen Platz eingenommen hat. Trotz einer bestimmten skeptischen Grundhaltung, die im Konfuzianismus konstatiert werden kann, ist die These falsch, daß in den ostasiatischen Kulturen generell kein ausreichender religiöser Nährboden vorhanden sei.
Immerhin gibt es genügend Hinweise auf eine skeptische Haltung der Religion gegenüber, besonders unter Konfuzianern, die früher weitgehend die Elite der geistigen und politischen Welt Chinas stellten.
Als typisches Beispiel sei ein kleines Gedicht von Li Shangyin angeführt. Er gehört zu den bedeutenden Lyrikern der Tang-Zeit (7. –9. Jhdt.).
„Wenn im Kaiserpalast Ratgeber unter den Weisen gesucht wurden, auch unter denen, die verbannt waren,/ fand sich im jungen Jia Yi ein ganz außergewöhnliches Talent,/ heimlich, erbärmlich, mitten in der Nacht trat er vor den Kaiser. Der befragte ihn nicht nach dem Wohle des Volkes, sondern sprach mit ihm über Geister und die göttliche Welt.“ [1]
Jia Yi, hier genannt Jia Sheng (der junge Jia – er starb schon mit 33 Jahren) war ein Dichter, der sich auch als Gelehrter, besonders im Rechtswesen hervorgetan hatte und zur Zeit des Han-Kaisers Wendi (179 n. Chr.) lebte. Tadelnd wird hier hervorgehoben, daß dieser außergewöhnliche Mensch vom Kaiser nicht wegen der Regierungsgeschäfte als Berater herangezogen wird, sondern um ihm Auskunft über die Welt der Geister und Götter zu geben. Das mußte nachts geschehen und Li Shangyin beschreibt es als peinlich und erbärmlich. Der konfuzianische Hintergrund ist deutlich: Auf metaphysische Themen verschwendet man keine Zeit. Zwar hatte Konfuzius ihre Bedeutung nicht völlig abgestritten.[2] Aber seine Schüler berichten von ihm, daß er nie darüber sprach.[3] Seine Grundhaltung, die sich hier in dem Gedicht widerspiegelt, drückt er einmal so aus: „wenn wir nicht (ausreichend) den Menschen dienen können, was soll man dann Geistern (Göttern) dienen!“ [4]
Das Naheliegende ist zu tun. Es geht um die Welt des Diesseits. Das volle Leben bringt Herausforderungen zur genüge. Darum läßt man sich nicht zu weit auf die Ungewißheiten der Metaphysik ein. Hier hat der aufgeklärte Humanismus des Konfuzianismus seine Wurzeln, der sich bis heute in einer weit verbreiteten skeptischen Haltung der Religion gegenüber auswirkt. Allerdings war diese Skepsis vor allem bei den Eliten der Literaten anzutreffen während sich später die Religionen, der Daoismus und Buddhismus im Volke ausbreiteten. Die trockene, rationalistische Denkweise des Konfuzianismus mit ihrer Betonung ethischer Forderungen wurde von vielen als zu einseitig empfunden. – Erinnert sei an den Vorwurf des Lyrikers Li Shangyin, der vom Kaiser erwartet, daß er sich auf die Regierungsgeschäfte konzentriert, anstatt windigen religiösen Spekulationen nachzugehen. ─ Der aufgeklärte Humanismus ordnete das Zusammenleben der Menschen im Staat, in der Familie und sollte sich in der persönlichen Entwicklung des „edlen Menschen“ in weiser Erkenntnis und in der Praxis seines Handelns auf das „höchste Gute“ hin erfüllen.[5] Allerdings erwies sich diese Haltung für die Massen der Menschen in den großen Herausforderungen der politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit und ihren Wirren als ungenügend. Angesichts von Existenznot und Kriegesschrecken suchten sie tiefere Quellen und fanden sie in den Religionen.
Mit tiefen Gedanken bietet das Daodejing (Taoteking) einen anderen Zugang zum Selbst und Weltverständnis. Das Daodejing wird Laozi zugeschrieben, ohne daß die Existenz des Laozi je historisch gesichert werden kann. Hier wird über den Urgrund und das Ziel der Welt, über das Dao [Weg, Sinn, Wort] nachgedacht. In vielem bietet Laozi ein Gegenstück zum Konfuzianismus. Alles entspringt der Natur und muß sich auf natürliche Weise ergeben, nichts darf forciert werden. Gewalt wird von dem Schwachen überwunden. „Von selbst“, aus der Natur ergibt sich die erforderte Handlungsweise, nicht aus künstlicher Zivilisation. Johannes Hesse findet im Daodejing eine „Vorausnahme christlicher Grundgedanken“ und nennt Laozi einen „vorchristlichen Wahrheitszeugen.“[6]
Das chinesische Weltverständnis sieht den großen Zusammenhang von „Himmel und Erde“, d.h. des Kosmos. Der Mensch ist darin nur ein kleiner Bestandteil ist. Er hat teil am Ganzen der kosmischen Natur. Durch sein Verhalten kann er sie stören und Unheil heraufführen. Die großen Maler Chinas malen in ihren Landschaftsbildern immer wieder den winzigen Menschen, der einsam in der Weite der Unendlichkeit steht und in dem die kosmischen Kräfte sich wiederfinden, wenn er seine höchste Bestimmung erreichen sollte.
Was hier an philosophischer Einsicht und tiefster Erkenntnis gewachsen ist,, hat das Volk im religiösen Daoismus in Riten, Liturgie und praktischen Vollzug übersetzt. Eine Welt von Göttern und Geistern belebt die Natur. Menschen haben sich auf sie einzurichten, um Sünde und Vergehen zu meiden. Diese Religionsausübung nimmt die Entrückungen und Verzückungen der alten schamanischen Priester in ihren Kult auf und übt bis heute eine starke Anziehungskraft auf die Menschen aus. Die Volksreligion [im Sinne von folk-religion]findet erst in neuerer Zeit ernsthaftere wissenschaftliche Beachtung, die über bloße religionswissenschaftliche Beschreibung und Beobachtung hinausgeht.
Fast zur gleichen Zeit wie der religiöse Daoismus findet der Buddhismus von Indien und Zentralasien her kommend in China Eingang und verheißt den Menschen Überwindung des Leides in der Erkenntnis der Ursachen allen Leids, nämlich der Gier und dem Festhalten am Äußeren, Sinnenhaften. Im Mahayana kommt der Buddhismus nicht streng fordernd (wie im Hinayana) nach China, sondern als Gnadenreligion, die allen Erlösung bietet, die sich auf seine milde Botschaft einlassen.
Es ist gut nachzuvollziehen, wie diese Religionen den chinesischen Menschen mit ihren Tempeln, Festen und ins Leben greifenden Ideen näherkamen als der nüchterne Konfuzianismus.
Zu den Geheimnissen der Geschichte gehört es, daß in den Zeiten des religiösen Suchens der christliche Glaube in Asien noch nicht in den Blick gekommen war.
2. Das moderne sozialistische China
Länger als eineinhalb Jahrhunderte dauert der mühsame Weg Chinas in die Moderne. Er führt über Kriege, Bürgerkrieg, Revolution, Kulturrevolution und sozialistische Ideologie zu völlig neuen Lebensformen. Diese Geschichte bedeutet auf der einen Seite: Kaskaden von vergossenem Blut, Entbehrungen, Opfer, Verzweiflung, Entrechtung; auf der anderen Seite: Fortschritt, eine Grundversorgung für alle, wirtschaftlichen Aufschwung sondergleichen (mit einem konstanten jährlichen Wachstum von 9% seit ca. 20 Jahren!), vermehrte Bildungschancen, gesellschaftliche Errungenschaften, Chinas Eintritt in die WHO im Jahre 2001, der für China eine Anerkennung unter den Nationen gleichkommt. Die Aussicht auf die Olympiade in Beijing im Jahre 2008 läßt die Welt zum Neuen China wallfahren, vor 30 Jahren noch eine völlig unausdenkbare Vorstellung! Das 21. Jahrhundert wird von vielen als das chinesische Jahrhundert angesehen, in dem die wirtschaftliche und technische Weltmacht China in Asien bestimmend werden wird und überhaupt alle anderen Staaten überholt.
Schon jetzt ist China zur viertgrößten Handelsnation der Welt aufgestiegen und steht mit 600 Milliarden US$ Devisenrücklagen weltweit an zweiter Stelle. Über viele Jahre sind ausländische Devisen in Höhe von insgesamt ca. 1000 Mrd. US$ nach China geflossen, d.h. jährlich über 60 Mrd.. China gilt als das am meisten attraktive Zielland für Direktinvestitionen. Chinas Exporte wie Import haben allein im vergangenen Jahr um 30% zugenommen, dabei erwirtschaftete China einen Handelsüberschuß von 32 Mrd. US$.[7]
Der beispiellose Aufschwung wird überall in den chinesischen Großstädten augenscheinlich, besonders natürlich in Beijing und Shanghai. Die Hauptstadt Beijing war schon während der frühen Jahre der VRChina eines Großteils ihrer historischen Kulisse beraubt worden. Ihre alte Stadtmauer, Stadttore, Jahrhunderte alte und berühmte Wahrzeichen, fielen dem Bau von Paradestraßen zum Opfer. Heute sind vom alten Beijing nur noch Parks, Palastbauten und einige Tempel übrig. Die bekannten Hutong-Viertel mit ihren engen Gassen, einstöckigen Häusern, die um einen kleinen Hof herum angelegt waren, sind bis auf wenige Ausnahmen abgerissen. An ihre Stelle treten Bürohochäuser, riesige Hotels und Hochblocks mit Wohnungen. Wo einmal die Radfahrer das Sagen hatten, fahren heute 2,2 Mill. Autos, bzw. stehen im Zentrum der Stadt im Stau. Zu den Großbauten in Vorbereitung auf die Olympiade gehört auch eine über-dimensionale christliche Kirche.
Shanghai zählt inzwischen mehr „Wolkenkratzer“ als New York. Die früher im Stadtbild dominierenden westlichen Großbanken am „Bund“ sind nur noch klägliche Zeugnisse einer vergangenen Epoche des Kolonialismus, verdeckt von eleganten Hochbauten im alten Zentrum und gegenüber auf der anderen Seite des Flusses im neu entstandenen Stadtteil Pudong. Hochstraßen haben weite Schneisen in die alten Wohngebiete geschlagen, damit der Verkehr entlastet wird. Die Menschen werden einfach aus ihren Wohnvierteln ausgesiedelt ohne Rücksicht auf Wege zur Arbeit oder auf ihren bisherigen Erwerb durch den Betrieb von kleinen Restaurants oder Läden. Vor 25 Jahren gab es keine Warenauslagen in Shanghai. Schaufenster in den chinesischen Städten waren noch 1980 mit Brettern zugenagelt. Heute erscheint das Angebot chinesischer wie auch ausländischer Waren als unbegrenzt, häufig in bester Qualität. Der neue Reichtum verändert das Leben vieler Menschen, besonders in den Städten. Technische Neuerungen ermöglichen es, Jahrzehnte einer kostspieligen Entwicklung zu überspringen und teure Investitionen zu vermeiden. Die Mobilfunktechnologie z.B. erspart die schwierige und teure Anlage eines Festnetzes. Heute ist jeder entlegene Winkel in China telephonisch zu erreichen. Nur die ganz Armen besitzen kein Mobilphon.
Großprojekte wie der Staudammbau am Jangtse, der einen Stausee von über 700km Länge schaffen soll, sind bereits in die Endphase gerückt. Millionen von Menschen mußten für den Fortschritt ihre angestammte Umgebung verlassen. Um den ungeheuren Energiebedarf
Chinas zu decken und das Land von ausländischen Ölimporten abzukoppeln, sind nunmehr insgesamt 28 neue Atomkraftwerke projektiert. Jedes Jahr werden zwei in Angriff genommen. Das Risiko ökologischer Gefahren ist einkalkuliert. Katastrophen großen Ausmaßes
werden nicht auszuschließen sein, wie die jüngsten Chemieunfälle mit der Vergiftung des Trinkwassers für ganze Landstriche bis ins russische Ausland gezeigt haben. Der Fortschritt fordert seinen Preis, nicht allein für China.
In Shanghai fährt die aus Deutschland importierte Magnetbahn auf einer Kurzstrecke von der Innenstadt zum Flughafen. Der Traum des Kanzlers Schröder von einem Bau der Magnetbahnverbindung von Shanghai nach Beijing ebenfalls durch deutsche Firmen ist ausgeträumt. Die Technologie ist mit der Investition in Shanghai nach China vergeben worden. Dort wurde sie angeblich „im Eigenbau“ weiterentwickelt. Die teure Strecke wird China selbst bauen. Warum auch die dafür erforderlichen Kosten ins Ausland abfließen zu lassen? Auch die Träume der deutschen Autoindustrie, durch Joint Ventures in China mit dem Transfer von Spitzentechnologie deutsche Arbeitsplätze zu sichern, brachte nur kurzfristige Gewinne, dagegen jedoch einen Transfer von Hochtechnologie an China. Kanzler Schröder und die Wirtschaftsmanager erwarten auf dem überdimensionalen „chinesischen Markt“ hohe Gewinne. Die Erfahrungen mit der Magnetbahn oder die Präsenz von VW China etc. weisen daraufhin, dass es dabei gar nicht so traumhaft zugehen mag.[8]
Die Einschätzung des „unendlichen Marktes“ in China steht auf zweifelhaftem Fundament und übersieht die Tatsache, daß das durchschnittliche Pro-kopf-Einkommen in China nicht höher als 1000,- US$ beträgt und überdies auf die Bevölkerung ungleichmäßig verteilt ist.
China steht trotz eines erheblichen Potentials noch langfristig vor größten Problemen. Das hat die Tagung soeben beendeten 10. Nationalen Volkskongresses bestätigt.
Der Ministerpräsident, Wen Jiabao, hat unmißverständlich auf die Gefahren einer ungleichen Entwicklung hingewiesen. 8oo Mill. Menschen leben auf dem Lande und sind von der Landwirtschaft abhängig. Diese aber erbringt nur 15% des Bruttoinlandsproduktes, während derAnteil der Industrie 53% beträgt.[9] Etwa 150 Millionen Menschen sind arbeitslos. Ebenso viele verdingen sich als „Wanderarbeiter“ auf den Großbaustellen, wo sie unterbezahlt und nicht sozial abgesichert auf Zeit ausgebeutet werden. Sozialen Sprengstoff birgt die Stillegung unproduktiver Staatsbetriebe, deren Arbeiter einfach entlassen werden, oft ohne daß neue Arbeit für sie vorhanden ist. Im Jahr zählte man jetzt 86 000 Protestaktionen, die auf die angespannte Sozialfrage sowie die ungesicherte Umweltsituation zurückzuführen sind! An Unruhen und Aufständen sind alle früheren Dynastien und Herrschaftssysteme in China gescheitert. Darum breitet sich Sorge in den Führungsetagen des Landes aus. In den großen Städten und den entwickelten Küstenprovinzen findet sich zwar zum Teil ein großer Wohlstand. Doch im Westen Chinas, in abgelegenen Bergregionen oder Landstrichen ohne Zugang zu Transportverbindungen zu den großen Städten sind die Menschen so arm, daß sie im Jahr nicht mehr als € 100,- verdienen.[10] Der Nationale Volkskongress hat Maßnahmen angekündigt, das Wohlstandsgefälle zwischen Stadt und Land zu verringern. Ein Subventionsprogramm wurde angekündigt, das Bauernland, sozialen Netzen, Ausbildung und technologischer Erneuerung zugute kommen soll.
Der eingangs zitierte Lyriker Li Shangyin wäre glücklich, daß hier die Belange des Volks zur Sprache kommen und behandelt werden. Allerdings gibt es gravierende Defizite in China, die über die wirtschaftlichen Probleme hinaus wirksam sind und die hier nicht im einzelnen behandelt werden können: Korruption[11], Menschenrechtsfragen, Fragen zur Religionsfreiheit,[12] Todesstrafe[13], Einschränkung der Meinungsfreiheit, Überwachung des Internets, ideologische Vorherrschaft im Parteistaat usw. Das Leben der Menschen wird hiervon berührt, aber nicht jeder Chinese fühlt sich dadurch eingeschränkt. Viele sind überzeugt, daß ihr Staat im Vergleich zu früher unschätzbare Errungenschaften aufzuweisen hat, gewisse „Einschränkungen“ werden im Fortgang der Entwicklung eliminiert werden.
Aber der Erfolg der Wirtschaftsreformen ist großen Risken ausgesetzt. Man kann nur hoffen, daß in der weiteren Zukunft eine stabile Entwicklung gewährleistet bleibt!
3. Die Kirche in der Volksrepublik China[14]
3.1. Christen in der öffentlichen Wahrnehmung in der VRChina
Angesichts der Gefährdungen und sozialen Spannungen in China bemüht sich die Regierung in China um einen Ausgleich. Ein herausragendes Thema, das in den Medien und in zahlreichen Tagungen während des vergangenen Jahres immer wieder betont wurde, ist die
„harmonische Gesellschaft.“[15] Was vor wenigen Jahren nicht vorstellbar war, ist jetzt eine Selbstverständlichkeit: den Religionen wird wichtige Rolle im Zusammenspiel der Gesellschaft zugestanden. Ausdrücklich erwähnt sind dabei auch die christlichen Kirchen, die mit der Nächstenliebe ein Element einbringen, das eine Kombination der chinesischen Kultur und des Christentums möglich machen könne.
Nach einer langen Zeit von antireligiöser Propaganda, bis hin zur Verfolgung und Unterdrükkung ist das Christentum eine anerkannte Größe in China geworden. Kirchengebäude, die früher fast nur hinter Mauern versteckt wurden, stehen jetzt häufig wieder frei sichtbar im Stadtbild. Neue Kirchen werden gebaut und alte, bislang beschlagnahmte Kirchengebäude weiterhin zurückgegeben. In Shanghai gibt es heute 183 evangelische Kirchen und gottesdienstliche Stätten! 17 theologische Seminare und Bibelschulen in den verschiedenen Provinzen mit 2700 Studenten sorgen für theologischen Nachwuchs. Etwa die Hälfte der Theologiestudenten sind junge Frauen. Pfarrer und kirchliche Mitarbeiter werden dringend gebraucht. Seit 1986 wurden 40 Millionen Bibeln und Gesangbücher gedruckt und in den Gemeinden verbreitet, darunter auch Bibeln in Sprachen die Nationalen Minderheiten in China.[16]
Nach offiziellen Angaben aus China beträgt die Zahl der evangelischen Christen etwa 18 Millionen, inoffiziell schätzt man sie auf ca. 30 Millionen. Die Kirche wächst unaufhaltsam, besonders in den Landgebieten.
In der katholischen Kirche rechnet heute man mit ca. 12 Millionen Christen. Evangelischerseits finden sich heute drei unterschiedliche Gruppierungen in China:
3.2. Der Chinesische Christenrat und die Drei-Selbst Bewegung
Die Kirchen, zu denen wir unmittelbaren Zugang haben und mit denen wir eine partnerschaftliche Beziehung pflegen können, sind im Chinesischen Christenrat (CCC) zusammengefaßt. Sie sind in der Regel aus der Arbeit westlicher Missionen entstanden. Seit 1957 sind diese Kirchengemeinschaften, die ihrer Herkunft nach Anglikaner, Presbyterianer, Methodisten, Lutheraner usw. waren, in einer Kirche vereint, die sich nach-konfessionell nennt. Die herkömmlichen Unterschiede treten zurück, wenn sie auch noch bei einzelnen, besonders bei älteren Theologen gepflegt werden. Genau genommen bilden sie keine verfaßte Kirche als Institution mit einer festen, für alle geltenden Kirchenordnung, sondern eine Gemeinschaft von Einzelgemeinden, die im „Rat der Christen“ (CCC) Mitglieder sind. Das Ziel der Gründung einer „Chinesischen Kirche Christi“ konnte noch nicht erreicht werden. Bevor der CCC 1980 die Kirchenleitung übernahm und pastorale Aufgaben der Betreuung der Gemeinden, Versorgung mit Bibeln und Gesangbüchern, die Ausbildung von Theologen und kirchlichen Mitarbeitern usw. in eigener Zuständigkeit durchführte, hatte die Patriotische
Drei-Selbst Bewegung (PDSB) die evangelischen Kirchen vor den staatlichen Behörden vertreten und teilweise auch die Funktion der Kirchenleitung übernommen. Dieser Bewegung ist es zu verdanken, daß bald nach der Gründung der Volksrepublik China das Modell einer Art „Konkordat“ mit dem Staat zustande kam. Federführend war Wu Yaozong, ein YMCA-Sekretär. Wu hatte im Union Theological Seminary in New York Theologie studiert. Zunächst war er leidenschaftlicher Pazifist. Als Japan China 1931 und vollends 1937 in den 2. Weltkrieg stürzte und weite chinesische Landstriche besetzte, gab Wu den Pazifismus auf und befürwortete als glühender Nationalist den Krieg mit Japan. Nach 1945 erkannte er die weitgehende Abhängigkeit der chinesischen Kirchen von den Missionen und westlichen Kirchen, von ihren Missionaren und finanziellen Zuwendungen. Darin sah er eine Gefahr der Verfremdung des Christentums, das in China überwiegend nur in westlicher Gestalt auftrat. Zugleich näherte er sich zunehmend der kommunistischen Revolution Mao Zedongs, während die Nationalregierung unter Tschiang Kaishek nach seiner Meinung einen Ausverkauf Chinas an die westlichen Mächte betrieb. Nach der Revolution verhandelten er und andere Kirchenführer für die evangelischen Gemeinden mit Vertretern der neuen Regierung, vor allem mit dem Ministerpräsidenten Zhou Enlai. Die Kirche fand Anerkennung im Neuen China unter der Voraussetzung, daß sie den sozialistischen Staat anerkennt, sich für den Aufbau des sozialistischen Chinas einsetzt und den Imperialismus bekämpft. Tatsächlich war das alte China halbwegs eine Kolonie der westlichen Mächte und noch in das 20. Jahrhundert hinein von ihnen weitgehend abhängig in Fortsetzung und nur geringer Abänderung der imperialistischen Politik des 19. Jahrhunderts. Die Existenzgrundlage für die Kirche konnte gerettet werden, wenn sie sich von der Abhängigkeit vom Westen, seinen Missionen und Kirchen lossagt und auf ihrer Selbständigkeit (Finanzen, Kirchenleitung und Mission) besteht. Diese Ziele suchte die Patriotische Drei-Selbst Bewegung zu verwirklichen.
Der CCC arbeitet eng mit der PDSB zusammen. Der Preis ist eine relativ enge Bindung an den Staat. Sie bedeutet nicht, daß diese Kirche in jeder Beziehung eine Marionette der Regierung ist. Kirchenvertreter betonen, daß sie in Glaubens- und theologischen Fragen frei sind, in praktischer Hinsicht aber am gesellschaftlichen Aufbau in China teilhaben. Tatsächlich sind die Gemeinden überwiegend konservative, bibeltreue Christen. Da es trotz der Bemühungen an den Theologischen Seminaren noch immer an qualifizierten kirchlichen Mitarbeitern mangelt, werden verantwortliche Laien geschult und übernehmen in Hingabe und vollem Einsatz die Leitung von Gemeinden, oft unter sehr schwierigen Bedingungen. Es ist dringend notwendig, die immer weiter wachsenden Gemeinden von neuen Christen zu unterweisen, um so dem Sektenunwesen, das in China auch grassiert, entgegenzutreten. Glaube und christliche Lebensführung müssen unbedingt vertieft werden, damit das Wachstum nicht als ein rasches Strohfeuer zunichte wird.
Den Christen ist zugestanden, daß sie sich in Kirchen zu Gottesdiensten versammeln. Straßenmission, Öffentlichkeitsarbeit in den Medien, Einflußnahme im Bildungs- und Gesundheitswesen ist den Religionen in der chinesischen Verfassung verwehrt. Aber es gib seit 20 Jahren eine organisierte gesellschaftsdiakonische Arbeit, die auf christliche Initiativen zurückgeht. Sie betreibt als selbständige Stiftung, Amity Foundation, Entwicklungsarbeit in verarmten ländlichen Bezirken, bildet Arzthelfer aus und hat sich während der letzten Jahre der in China viel zu lange tabuisierten Aidsopfer und der Aids-Prävention angenommen. Übrigens arbeitet auch die große Druckerei in Nanjing, in der für die Kirche chinesische Bibeln usw. hergestellt werden, zur Amity Foundation. Die relativ kleine Stiftung hat in China unter der Vielzahl der NGOs einen guten Namen.
3.3 Die nicht registrierten Gemeinden
Die zweite hier zu nennende evangelische Gruppe ist vielgestaltig und nicht leicht zu beschreiben. Ihr gehören Gemeindegruppen an, die sich spontan zusammen gefunden haben, ohne die Leitung von Pfarrern oder ausgebildeten kirchlichen Mitarbeitern. Ihre Frömmigkeit
ist lebendig, vom Geist getrieben. Viele dieser Gruppen können dem Typ der Pfingstkirchen zugerechnet werden, manche bewegen sich auch am Rande des Schwärmertums. Die Zahl ihrer Mitglieder ist sehr groß, aber kaum präzise zu nennen. Sie sind in Netzwerken, die sich über ganz China erstrecken, mit einander verbunden. Reisende Prediger versorgen diese Gemeinden. Manche sprechen von ihnen als „Hauskirchen“, als kämen sie in Privathäusern zusammen. In Wirklichkeit versammeln sie sich in großen Sälen oder selbstgebauten Kirchen. Viele bemühen sich darum, von den Behörden registriert zu werden. Dafür gibt es bestimmte Kriterien, die sie zum Teil nicht erfüllen können. Sie befinden sich somit in einem rechtsfreien, letztlich illegalen Zustand, da sie keine offizielle Registrierung vorweisen können. Manche von ihnen lehnen grundsätzlich die Registrierung ab, weil sie nicht unter staatlicher Kontrolle leben wollen oder grundsätzlich dem sozialistischen System ablehnend gegenüberstehen.
Mit dem CCC und der PDSB pflegen viele dieser Gemeinden eine freundschaftliche Beziehung. Sie erhalten hier ihre Bibeln und christliche Literatur sowie Arbeitshilfen für Prediger und Gemeindemitarbeiter. Andere stehen CCC und PDSB mißtrauisch gegenüber.
Zumeist tolerieren die Behörden diese Gruppen, da sie sich keinerlei Übertretungen staatlicher Ordnungen zuschulde kommen lassen. Überhaupt gilt in China bei Kriminalisten die Erfahrung, daß Christen unbescholtene, vorbildliche Bürger sind.
Doch kommt es örtlich auch zu Übergriffen durch die Behörden, besonders wenn Beamte
ideologische, marxistisch geprägte Vorurteile gegenüber der Religion haben. In solchen Fällen sind Christen aus den nicht registrierten Gemeinden gefährdet und können schwerem Unbill ausgesetzt sein. Denn Registrierung bedeutet keineswegs nur Kontrolle durch den Staat, sondern auch einen anerkannten Rechtsstatus. Häufig erfahren wir von der Festnahme von Predigern oder Gemeindeleitern und ihren Helfern, von Unregelmäßigkeiten der Gerichte, die oft sogar noch mit Folter und erpreßten Geständnissen arbeiten. Hier gibt es echte Märtyrer – nicht wenige, von denen wir nie etwas hören.[17] Trotz solcher möglichen Übergriffe wachsen diese Gemeinden weiterhin. Oft geschieht das unter dem Einfluß von Heilungserfahrungen.
Die Verkündigung in dieser Gruppe von Gemeinden ist schlicht und biblisch, manchmal auch biblizistisch eng und nach theologischen Begriffen anfechtbar. Doch wirkt sie im Kontext dieser einfachen Menschen kraftvoll, indem sie einen neuen Sinn für ihr Leben vermittelt.
3.4. Die „Kulturchristen“
Seit der Öffnung Chinas nach der Kulturrevolution hat sich eine neue Welt für die chinesische Bevölkerung aufgetan, vor allem für die Jüngeren, die alles, was sich außerhalb Chinas zugetragen hat, nicht selbst erfahren konnten. Sie waren innerhalb ihres offiziellen, sozialistischen und ideologisch geprägten Bildungssystem aufgewachsen. Nachdem ihnen aber der unmittelbare Zugang geöffnet war, drangen sie darauf, sich selbst zu orientieren und zu prüfen, was außerhalb Chinas unter völlig anderen Voraussetzungen gedacht wird und sich dort als Lebenssgrundlage bewährt. Dabei stießen junge Intellektuelle, besonders an den Universitäten, auf philosophische klassische und zeitgenössische Werke, zugleich auch auf Publikationen bekannter Theologen z.B. Paul Tillich, Karl Rahner, Jürgen Moltmann u.a.. Sie begannen, die Bibel zu lesen und wurden aus interessierten, mit christlichen Gedanken sympathisierenden Lesern zu Christen. Zu diesen Menschen gehören Philosophie-Professoren, Angehörige anderer Fakultäten und Intellektuelle. Ihnen gemeinsam ist die Erfahrung, daß sie bei ihrem Studium mit der anfänglichen Zielsetzung, andere Kulturen verstehen zu lernen, zu Christen geworden sind. Es stehen keine Zahlen zur Verfügung. Sicherlich handelt es sich um eine Minderheit. Aber sie veröffentlichen Übersetzungen von Philosophen und Theologen in einer eigenen Zeitschrift und anderen Publikationen, auch lassen sie ihre Erkenntnisse in Vorlesungen und Seminare einfließen, immer unter dem erklärten Ziel: man muß die geistigen Kräfte der westlichen Länder untersuchen und verstehen, um wirklich mit ihnen umgehen zu können. Das legitimiert sie im Rahmen der Universität für ihre Arbeit. Ihr christlicher Wirkungskreis ist trotz ihrer relativ geringen Zahl nicht klein, zumal sie einen regen Austausch untereinander halten.
Die Bezeichnung „Kulturchristen“ lehnen sie als unzutreffend ab. Sie wollen einfach Christen sein, auch wenn sie sich nicht für eine Konfession oder Kirche als Institution entscheiden. Das intellektuelle Niveau der beiden anderen Gruppen in China ist ihnen nicht gemäß, auch lassen sie sich in der Regel nicht taufen. Doch verstehen sie sich als Jünger Christi und wollen in seinem Geist in China an ihrem jeweiligen Ort tätig sein.
4. Theologische Herausforderungen
Seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts erfährt in der chinesischen Christenheit die Frage große Beachtung, wie das Evangelium in China zu verkündigen ist, damit es nicht in westlicher Form als ein Fremdkörper empfunden wird. An dieser Fragestellung war vor 1200 Jahren die Nestorianerkirche in China gescheitert, aus dem gleichen Grunde letztlich kam die römisch-katholische Mission vor 200 Jahren zu einem abrupten Ende.
Es ist selbstverständlich, daß Verkündigung nie in einem luftleeren Raum stattfindet. In jeder Predigt geht es darum, Menschen in ihrer spezifischen Situation anzureden. Dabei sind kulturelle Besonderheiten von großer Wichtigkeit. Man hat diese Notwendigkeit in der Missionswissenschaft Indigenisierung, Bodenständigkeit oder Inkulturation genannt. Da es nicht nur um Einfühlung in kulturelle Gegebenheiten geht, sondern auch um die gesellschaftlichen oder politischen Voraussetzungen, spricht man umfassend von Kontextualisierung. Menschen werden in ihrem jeweiligen Kontext angesprochen, der Kultur, Tradition und äußere Lebensumstände umfaßt. Diesem theologischen Problem liegt die Erkenntnis zugrunde, daß immer und überall, wo das Evangelium Ausdruck im Glauben und Leben findet, eine spezielle Zuspitzung erfolgt, die es an dieser Stelle aktualisiert. Das Wort ward Fleisch. Ohne die Inkarnation wird Glaube eine leeres Glasperlenspiel.
Wie versucht man heute in der chinesischen Christenheit, diese Frage zu lösen?
4.1 Die „offizielle Kirche“ (CCC und PDSB)
In der Kirche, die auf die ökumenische Missionsbewegung zurückgeht, wurde bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts über eine China angemessene Verkündigung nachgedacht. Die Frage stellte sich immer dringender angesichts des wachsenden Nationalismus und der anti-religiös ausgerichteten Gegenbewegung gegen Mission und Kirche. Sie kulminierte in der kommunistischen Revolution. Das Christentum wurde aufgrund der unglücklichen Verknüpfung mit der westlichen Expansion und dem Kolonialismus als ein Fremdkörper empfunden. Darum suchte die Kirche nach einer genuin chinesischen Form der christlichen Verkündigung und der Verwirklichung einer chinesischen Kirche.
Auf der einen Seite wird geprüft, ob es in der überlieferten Denkweise, in der reichen Philosophie und den Religionen Chinas Elemente gibt, die dem Evangelium verwandt sind.
Die Voraussetzung dafür ist die Überzeugung, daß Gott sich nie aus der Geschichte der Menschheit zurückgezogen hat. Christus, der Herr der ganzen Welt, des Kosmos, wie er im Neuen Testament bekannt wird, ist auch schon vor unserer Zeit in China gegenwärtig und wirksam gewesen.
Auf der anderen Seite geht es darum, daß das Christentum auch in gesellschaftlicher und politischer Hinsicht auf die bestehenden Herausforderungen ausgerichtet wird. CCC und PDSB setzen hier deutliche Akzente. Denn die Aufgabe der PDSB ist, die Loslösung der chinesischen Kirche aus der Abhängigkeit von ausländischen Einflüssen. Das gilt in besonderem Maße von der Theologie. Sie soll bei aller Wahrung des Kerns des Evangeliums eine chinesische Gestalt annehmen. Dazu wurde im Jahre 2000 von Bischof K.H. Ting eine Bewegung angestoßen, die die Chinesische Theologie weiterentwickeln soll.[18] Legitim und notwendig ist diese Initiative, indem sie zu einer zeitgemäßen biblischen Exegese führt. Bewährte wissenschaftliche Erkenntnisse, die in China oft noch nicht wahrgenommen werden, dürfen in der Neuzeit angesichts von Säkularisation und höherem Bildungsniveau nicht einfach ignoriert werden.
Darüberhinaus aber wird hier der Versuch unternommen, Kirche und Verkündigung auf die politische Situation einzustellen. Es geht im wesentlichen um eine politische Theologie. Wichtige überlieferte Aussagen sollen überprüft werden.
Gott ist die Liebe. Das gilt als Kern und Ziel des Evangeliums. Dementsprechend, fordert man, müßten juridische Kategorien in China zurücktreten. Sünde und das biblische Verständnis der menschlichen Möglichkeiten galten schon immer in China als schwierig zu vermitteln. Das konfuzianische, optimistische Menschenbild wehrt sich dagegen. Im Sozialismus fordert es noch mehr zum Widerspruch auf. Nicht daß Sünde völlig geleugnet werden soll. Doch fordert man, daß z.B. die Rechtfertigungslehre neu interpretiert wird. Angemessen sei im heutigen China nicht so sehr „Rechtfertigung allein aus Glauben,“ sondern „Rechtfertigung aus Liebe“ und ihren tätigen Einsatz. In den Gemeinden dürfte es allerdings nicht einfach sein, diese neuen Erkenntnisse durchzusetzen. Das letzte Wort ist somit in dieser Sache noch nicht gesprochen.
Ein wichtiger Akzent ist die Verwirklichung christlichen Glaubens im praktischen Leben. Christliche Ethik erfordert Teilnahme an gesellschaftlichen Prozessen. Im Alltag der einzelnen Christen und im Engagement der chinesischen Gemeinden wird Gottes Liebe bezeugt. Institutionell nimmt sie durch die Amity Foundation in Zusammenarbeit mit der Ökumene in eindrucksvoller Weise Gestalt an. Man sollte nicht übersehen, daß der Aufweis von „guten Werken“ in der sozialistischen, säkularen Umwelt apologetischen Charakter hat und einer Art Rechtfertigung religiöser Existenz dienlich sein kann. Der politische Charakter in PDSB und CCC allerdings entspringt eindeutig auch dem vorherrschenden chinesischen Patriotismus.
4.2 Die nicht registrierten Gemeinden
Es dürfte schwierig sein, für diese Gruppe eine einheitliche theologische Ausrichtung zu konstatieren. Bei aller Verschiedenheit der Gemeinden ist aber allen gemeinsam eine Be-tonung persönlichen Glaubens zuzuschreiben. Es geht vor allem um das Heilsangebot in der Verkündigung des Evangeliums an jeden einzelnen und eine entsprechende Spiritualität. Mit dieser Frömmigkeit verbindet sich, daß das praktische Leben, die Sorgen und Nöte der Menschen Beachtung finden. Viele dieser Gemeinden sind unter dem Eindruck von praktischer Nächstenliebe entstanden. Oft sind auch Heilungserfahrungen ein entscheidender Anstoß dafür gewesen, daß Menschen, z.T. alle Dorfbewohner zu Christen geworden sind. Die missionarische Kraft dieser Gemeinden zeigt sich in ihrem erstaunlichen Wachstum, das immer noch fortschreitet. Eine ausgeprägte theologische Reflexion ist kaum zu erkennen, zumal die Möglichkeiten für eine eigene theologische Ausbildung fast völlig eingeschränkt sind. Sie erfolgt am ehesten in Gemeinde-Seminaren und kurzen Freizeiten, sofern überhaupt möglich.
4.3 Die „Kulturchristen“
Diese Gruppe besteht aus einzelnen Intellektuelle, von denen die meisten jeweils ihren individuellen Ansatz gefunden haben. Ihnen gemeinsam ist die Erfahrung der Entdeckung von etwas Neuem im Evangelium, das sie in dieser Weise in China nicht wahrnehmen konnten. Ihr Ansatz richtet sich nicht unmittelbar auf den einzelnen Menschen, sondern vielmehr auf die größere Dimension der chinesischen Wirklichkeit und ihrer geistigen Grundlagen. Die radikale Herausforderung z.B. der Zusammenfassung von Religion bei Tillich, versuchen sie weiterzugeben: „Was mich unbedingt angeht“[19] Angesichts des Turbokapitalismus mit sozialistischem Anspruch, angesichts der einseitigen Konzentration auf die technische Welt, angesichts des darauf basierenden Materialismus, der die Menschen in den Bann schlägt, suchen sie mit dem Geist des Evangeliums eine Erneuerung Chinas und seiner Menschen zu verwirklichen, die sich in mancher Hinsicht auch mit den Kräften der alten chinesischen Kultur verbinden läßt. Dabei nehmen sie die gegenwärtige sozio-politische Situation und ihre Defizite ernster als vielleicht beide anderen Gruppen. Ihr Beitrag könnte für die weitere Entwicklung des Landes und seiner Kirche von entscheidender Bedeutung werden.
Abschließend ist zu sagen, daß in der chinesischen Christenheit, die katholische einbegriffen, eine Vitalität christlichen Lebens und der christlichen Hoffnung zu konstatieren ist, die eine Müdigkeit oder Resignation, wie sie in Europa in Erscheinung tritt, beschämt. Auf jeden Fall ist die These widerlegt, nach der in Ostasien keine religiöse Matrix vorhanden ist, auf der Glaube und Leben sich entwickeln können. Das Christentum erweist sich als eine lebendige Kraft in einer Umwelt, die in vieler Hinsicht ihrer Entwicklung entgegensteht und sie bedroht. Es ist innerhalb des politischen und gesellschaftlichen Kontextes nur von einer Minderheit getragen und wird sich kaum einmal mehrheitlich durchsetzen können. Aber sein Beitrag aus der Wirklichkeit des Evangeliums bleibt nicht unbeachtet.
[1] Li Shangyin, Jia Sheng, in: Tang Shi san bai shou, Lianyi shudian chuban, Hongkong 1971, S. 161
[2] Lunyu, (Gespräche des Konfuzius), VI,20 er leugnet nicht ihre Existenz, aber er verlangt Distanz.
[3] Lunyu, VII,20
[4] Lunyu, XI, 11
[5] Daxue, (Große Lehre), 1, 1
[6] Johannes Hesse, Lao=tse, ein vorchristlicher Wahrheitszeuge, Basler Missionsstudien, Basel 1914, S. 56. Er stellt dem Text viele biblische Zitate zur Seite, deren Inhalte er im Laozi gegeben sieht. Dabei folgt er Richard Wilhelm und anderen christlichen Interpreten, die sich über den chinesischen Kontext hinwegsetzen. Grundsätzlich aber bleibt die Aufgabe für eine chinesische Theologie bestehen, sich mit dem Daodejing in positiver Weise auseinanderzusetzen
[7] vergl. China Wirtschaft, WWW. Auswärtiges Amt, Länderinfos, März 2005
[8] Georg Blume, Schnell und ohne Skrupel, Die Zeit, 23.02. 2006, Nr.9
[9] auf den Dienstleistungssektor entfallen 32%. Vergl. China Wirtschaft, a.a.O.
[10] Johnny Erling, China auf Schleuderkurs, Der Standard, 15.3. 2006 – Ein Viertel aller Bauern erwirtschaftet am Tag nicht mehr als 1 US$. Deutschlandfunk, 17.3. 2006
[11] Der Bericht des Obervolksstaatsanwalts erwähnt 40 000 Korruptionsfälle durch öffentliche Bedienstete im Jahr 2005. vergl.: Chinas Staatsanwaltschaften verstärken Kampf gegen Korruption. China.org.cn, 12.3.06.
12] siehe unten
[13] Der höchste Richter bestätigt vor dem Nationalen Volkskongress, daß im vergangenen Jahr 8000 Menschen hingerichtet wurden. Die Todesstrafe wird auf Mord und insgesamt Tatbestände angewendet. Die Hälfte sind keine Gewaltverbrechen. vergl.: China besteht auf Todesstrafe, Norddeutsche Neueste Nachrichten, 13.3.06Nicht übersehen werden darf allerdings die Tatsache, daß China seit mehr als 15 Jahren das Rechtswesen reformiert. Ein ständiger Austausch erfolgt z.B.mit Rechtsexperten der Bundesrepublik. Deutliche Fortschritte sind bereits erzielt worden. Die flächendeckende Durchsetzung solcher Reformen erfordert noch viel Zeit
[14] Hier kann aus Gründen der Konzentration nur über die evangelische Kirche berichtet werden.
[15] Hierzu ausführlich Roman Malek, Der Aufbau einer harmonischen und stabilen Gesellschaft und die Rolle der Religionen, China heute XXIV, Nr.6, S. 195ff.; In der evangelischen Kirchenzeitung Tian Feng, finden sich zahlreiche Hinweise darauf, daß die Diskussion auch in der Kirche Chinas aufgenommen worden ist. Auf Einzelnachweise sei hier verzichtet.
[16] Koreaner, Miao, Zhuang, Li und andere. In den Nationalen Minderheiten finden sich viele Christen.<//font>
[17] Ähnlich übrigens die Situation der katholischen „Untergrundkirche“, die auch „rom-treue“ Kirche genannt wird).
[18] “Reconstruction of theological Thinking“
[19] "The ultimate concern“