Lass mir das Ziel vor Augen bleiben           Rolf Scheffbuch, Korntal

 

 

Eigentlich kann ich damit rechnen, dass ich bei Interviews gefragt werde: "Und Ihr Vater war sicher auch Pfarrer?" Ich bin dann froh, sagen zu können: "O nein, mein Vater war Beamter. Eigentlich ursprünglich Diplom-Handelslehrer, aber dann nach dem Zweiten Weltkrieg Abteilungsleiter im Kultusministerium." Und wenn der Interviewer mich dann noch weiter fragend anblickt, dann setze ich dazu: "Als noch zwei andere meiner Brüder sich für das Theologiestudium entschlossen, war mein Vater ein klein wenig unzufrieden. Denn er sagte: 'Es muss doch auch noch Christen in ganz normalen Berufen geben!' "

 

Dieser mein Vater war fasziniert von seiner Aufgabe, in dieser Welt mitgestalten zu können. Er war so gepackt von der Aufgabe, dass er normalerweise bis in die frühen Morgenstunden hinein in seinem Amtszimmer durchschaffte. Dass man sich von den Herausforderungen dieser Welt gefangen nehmen lassen kann, das erlebte er in seinem Beruf - und auch als Mitglied des Landesparlamentes. Ich vergesse nicht, wie er mich bat, ihm in etwas künstlerischer Schrift eine Spruchkarte zu gestalten. Die stand dann jahrelang auf seinem Schreibtisch - in Blicknähe, auf Augenhöhe. Der Text lautete: "Mach mir stets süße deinen Himmel und bitter diese schnöde Welt. Gib, dass mir in dem Weltgetümmel die Ewigkeit sei vorgestellt!"

 

Von diesem geheimen und geheimnisvollen Ziel der Ewigkeit möchte ich heute ein wenig mit Ihnen reden.

 

 

Das biblische Stichwort vom "Ziel"

 

 

Vom "Ziel" redet die Bibel an entscheidenden Stellen, vom Ziel unseres Glaubens. So etwa im ersten Petrusbrief: "Ihr werdet euch freuen mit unaussprechlicher und herrlicher Freude, wenn ihr das Ziel eures Glaubens erlangt, nämlich der Seelen Seligkeit" (1.Petrus 1,8f). Ähnliches ist gemeint, wenn es im Römerbrief des Apostels Paulus heißt: "Das Ende" - im Griechischen ist deutlich der Begriff "Ziel" (telos) gebraucht - "ist das ewige Leben" (Römer 6,22). Also das Leben bei Jesus mit Gott. Der Himmel.

 

Mit diesem "Ziel" haben die Apostel ihren Herrn Jesus ganz ernst genommen, ja beim Wort genommen. Jesus nämlich hat die Seinen ganz klar wissen lassen, was er bei seinem himmlischen Vater betend eingefordert hatte: "Vater, ich will, dass, wo ich bin, auch die bei mir seien, die du mir gegeben hast, damit sie die Herrlichkeit sehen, die du mir gegeben hast" (Johannes 17,24).

 

So deutlich hat Jesus gegen Ende seiner irdischen Wirksamkeit seine Absicht zusammengefasst. Eigentlich hatte er schon immer von diesem "Ziel" geredet. Leider überhören wir das zu oft. Etwa dass die Pointe der "Seligpreisungen" des Bergpredigers Jesus darin besteht, dass den Leuten von Jesus dies Ziel groß und verlockend gemacht wird. Da heißt es:

 

"Sie sollen Gott schauen" (Matthäus 5,8). Die, die "reines Herzens sind", sollen das von allen wahren Frommen so heiß ersehnte Ziel erlangen, dass Gott "ihres Angesichtes Hilfe und ihr Gott ist" (vgl. Psalm 42,6). Sie sollen das Ziel erreichen: "Ich will schauen dein Antlitz in Gerechtigkeit, ich will satt werden, wenn ich erwache, an deinem Bilde" (Psalm 17,15). Der Erlanger Alttestamentler Geheimrat Dr. Dr. Otto Procksch bezeichnete dies Psalmwort: "das größte Wort im Alten Testament“.

 

"Sie sollen satt werden". Es soll also nicht nur Menschen geben, die "nach Gerechtigkeit hungern und dürsten" (Matthäus 5,6), weil ihre Gerechtigkeit ist "wie ein beflecktes Gewand" (vgl. Jesaja 64,5). Sondern sie sollen wie mit einem reinen, strahlend weißen Kleid mit göttlicher Gerechtigkeit überkleidet werden (vgl. Jesaja 61,10; Offenbarung 19,8).

 

"Sie sollen getröstet werden" (Matthäus 5,4). Es soll nicht beim Leid bleiben, nicht beim Schmerz des Verlustes, des an so Vielen zehrenden Heimwehs. Gott will vielmehr bei den Seinen "abwischen alle Tränen von den Augen." Auch der "Tod wird nicht mehr sein" (vgl. Offenbarung 21,4).

 

Die Barmherzigen "sollen Barmherzigkeit erlangen" (Matthäus 5,7) - und das nach so vielem Unbarmherzigem, das Menschen in dieser vergehenden Welt erfahren haben. Welch ein Ziel!

 

"Sie sollen Kinder Gottes heißen" (Matthäus 5,9). Die Friedfertigen sollen echt als Kinder Gottes angenommen sein, als hundertprozentig vollberechtigte Glieder des kommenden Reiches. Sie sollen geprägt sein von Gottes Art - den "Engeln Gottes gleich" (vgl. Lukas 20,36), mitbeteiligt an Gottes Regieren.

 

Aber auch in anderen Zusammenhängen als dem der Bergpredigt hat Jesus klar vom Ziel gesprochen, das er für die Seinen geplant hat: Mitten im Schrecken erregenden Zusammenbruch der alten Welt sollen sie mit erhobenen Häuptern der "Erlösung" entgegen gehen können (vgl. Lukas 21,28). Sie sollen als die von Gott "Auserwählten" nicht mit der alten Welt umkommen, sondern für Gott "gesammelt" werden (vgl. Matthäus 24,31).

 

Das ist total anderes als das, woran sich die meisten unserer Zeitgenossen genügen lassen. Sie haben sich eingenistet in dem, was schon der Gottesleugner Rousseau mitten in der französischen Aufklärung als entscheidenden Glaubensartikel einer "natürlichen", einer "allgemeinen Religion" herausgestellt hatte: Nämlich wir gehen doch alle 'irgendwie' davon aus, dass es nach dem Sterben 'irgendwie' weitergehen wird!

 

"Wer hier ermüden will, der schaue auf das Ziel!" Vielen Christen kommt es etwas genierlich vor, davon zu reden, dass "unser Heimatrecht im Himmel" (vgl. Philipper 3, 20) ist. Aber nichts anderes ist das Ziel, zu dem Gott eigentlich der Gemeinschaft mit ihm unwürdige Leute bereit machen will. Zur Heimat im Himmel! Auf  d a s, auf  d i e s  Ziel sollen wir schauen, dies Ziel sollen wir im Fokus behalten! An diesem Ziel wollen wir doch nicht vorbei treiben! Von diesem Ziel wollen wir uns doch nicht abbringen lassen!

 

 

Nicht am Ziel vorbei treiben

 

 

Offenbar ist es eine Gefahr schon für die ersten Christen gewesen, dass sie "am Ziel vorbei treiben" (vgl. Hebräer 2,1); dass sie sich von unerkannten, nicht ernst genommenen Strömungen "abtreiben" lassen.

 

Was ist das für ein Vergleich! Mein Innerstes erstarrt, wenn diese Szene wieder in der Erinnerung wachgerufen wird: Ein herrlicher Ferientag, ein Ausspanntag am Strand von Herzlya, Badestunden im warmen und doch erfrischenden Mittelmeer. Sanfte Wellen brechen sich kräuselnd an den beiden in den Meeresboden gerammten Stahlträgem mit den auf sie aufgesetzten schwarzen Wimpeln, die lustig im Wind flattern. Sie bezeichnen die Linie, über die Badende sich nicht hinauswagen sollten; denn draußen übt eine starke Unterströmung eine Sog-Wirkung aus. Ich hatte mich nicht ganz exakt daran gehalten. Zu viele Menschen planschten mir innerhalb des abgesteckten Viertels herum. Aber mit einem Mal - das Herz wollte mir stillstehen - merkte ich: Ich war nicht nur etwas über die Gefahrenlinie hinaus geraten. Sondern ich wurde mit geheimnisvoller Kraft immer weiter von den Wimpeln weggezogen - hinaus auf das offene Meer. Selbst wenn ich alle verfügbaren Kräfte in meine Schwimm­Bewegungen legte, trieb ich immer weiter ab von dem Ziel, das ich erreichen wollte: Wieder zurück in den sicheren Bereich!

 

Wie die Geschichte ausging, muss ich ein anderes Mal erzählen. Dass sie gut für mich ausging, sehen Sie daran, dass ich noch jetzt vor Ihnen stehe. Aber das erschreckend Erlebte wacht in mir auf, wenn ich in der Bibel den Satz lese: "Wir sollen umso mehr achten auf das Wort, damit wir nicht am Ziel vorbei treiben" (Hebräer 2, 1).Es kann sein, dass wir gar nicht am Ziel vorbei treiben wollen. Plötzlich jedoch spüren wir uns geheimen Kräften ausgesetzt, die uns unweigerlich und immer mehr und mehr vom Ziel wegziehen - und für andere sieht das Ganze aus wie ein harmloses Vergnügen.

 

Nun das Ganze - ohne Bild! Es sind so erschreckend viele, die in aller Stille - und scheinbar vergnügt und ohne jeden Harm - vom Ziel weggetrieben wurden und werden. Es sind so befremdlich viele, die sich bei Jesus ausgeklinkt haben, ohne dass ihnen das groß bewusst wurde. Einst waren sie zusammen mit mir treu im Kindergottesdienst-Helferkreis. Bis tief in sommerliche Nächte hinein waren sie nimmermüde Ordnungsdienst­Mitarbeiter bei Evangelisationen, bei Kirchentagen und bei Jugendtreffen. Sie haben als Mitarbeiter Verantwortung übernommen und sogar in den Gebetsgemeinschaften mitgebetet. Sie haben mitgesungen im Kirchenchor und sie haben sich nicht geniert, bei öffentlichen Aktionen sich zur Sache des Jesus zu bekennen. Aber irgendwann waren sie weggeblieben. Man merkte es zuerst gar nicht, dass sie sich spärlicher dazu hielten. Es war wie ein ganz langsam sich vollziehendes Abnabeln. Offensichtlich geschah es gar nicht im Zorn, gar nicht als bewusste Entscheidung. Aber als dann schreckliche Not über den einen oder anderen von ihnen kam, und sie wieder bei Jesus einklinken wollten, da merkten sie voll Erschrecken: "Das schaffe ich gar nicht mehr! Dazu bin ich viel zu weit weg!"

 

Ich denke an den Jugendfreund Manfred. Er war fröhlicher Mitarbeiter in unserem Jugendkreis. Ich kann ihn mir nur vorstellen als einen, der mit seinem schönen Rennrad wie zusammen gewachsen war. Und dann verloren wir ihn aus den Augen. Jahrzehnte später rief er mich an: "Kann ich mal zu dir kommen? Ich sollte mit dir reden. Die Arzthelferin hat mir dazu geraten, ich soll doch einmal zum Pfarrer Scheffbuch gehen; der hätte auch Krebs. Das bist doch du? Ja, - dann komme ich zu dir mit meinem Fahrrad!" Also, er war es, der Manfred mit dem Rad. Die Arzthelferin, eine Mitchristin, hatte gemerkt: Der braucht mehr und anderes, als ihm mein Chef als Arzt geben kann.

 

Darum verwies sie den Manfred auf mich. Ach, es war eine Freude, ihn nach Jahrzehnten wieder zu sehen. Aber ach, es war ein Schrecken, zu spüren: Für alles, was mit unserem Christus-Glauben zusammenhängt, für allen Ernst und für allen Trost des Wortes Gottes gibt es bei dem Freund gar keine Antenne mehr! Dafür ist er bei gesunden Ohren so taub, so völlig unempfindlich wie ich auf meinem ertaubten linken Ohr. Wochen später starb er. Der letzte Besuch beim sterbenden Manfred ist bei mir in schauerlichster Erinnerung: "Nein, nein, nein!" Nein zu jedem Werben, die doch auch für ihn ausgestreckte Hand des Heilandes Jesus neu zu fassen. Wie schade! Wie schrecklich!

 

 

Wer nicht das Ziel verfehlen will, soll die Worte von Jesus neu ernst nehmen

 

 

Die Worte von Jesus haben es in sich. Das hat der Apostel des Hebräerbriefes gemeint, als er seinen Gemeinden schrieb: "Darum sollen wir desto mehr achten auf das Wort, das wir hören, damit wir nicht am Ziel vorbei treiben". Weshalb "desto mehr"?

 

Weil gleich zu Beginn des Hebräerbriefes daran erinnert wird: Gott hat in diesen letzten Tagen - "geredet durch den Sohn". Durch diesen Sohn hat Gott noch einmal ganz anders zu den Menschen geredet als durch die Propheten. Er hat auch in anderer Qualität und mit anderem Inhalt geredet als die Engel. Gott hat seinem Sohn in erster Linie das Wort anvertraut! Mehr noch als Heilungen und Wunder. Das hat Jesus gemeint, als er im Hohenpriesterlichen Gebet sagte: "Die Worte, die du mir gegeben hast, die habe ich ihnen gegeben" (vgl. Johannes 17,8).

 

Mit dem Vers 3 in Kapitel 2 wird noch einmal unterstrichen: "Wie wollen wir (denn) entrinnen, wenn wir ein so großes Heil nicht achten, das seinen Anfang nahm mit der Predigt des Herrn und bei uns bekräftigt wurde durch die, die es gehört haben?"

 

Die Worte des Herrn Jesus sind verlässlich. Jesus hat sie mündlich klar ausgesprochen. Die Ohrenzeugen haben es verlässlich weitergegeben. Nicht nur dies! Sondern diese Worte haben es auch "in sich". In ihnen kommt Gott zu Wort. Und: Die Worte des Herrn Jesus haben Schöpfungskraft: "er trägt alle Dinge durch sein kräftiges Wort" (vgl. Hebräer 1,3).

 

Viele Christen haben noch gar nicht begriffen, was es um das "Wort des Christus Jesus" ist. Viele haben es sich angewöhnt, etwas pauschal vom "Wort Gottes" zu reden und damit die "Bibel" zu meinen. Aber die Bibel selbst ist es, die uns lehrt, die Sache mit dem "Wort des Christus" etwas genauer zu nehmen. Es ist etwas ganz Besonderes um die Worte des Christus! Es gibt zwei ganz aufschlussreiche Bibelstellen dafür, die so oft ungenau zitiert werden.

 

Da ist einmal Römer 10,17. Da heißt es glasklar: "So kommt der Glaube aus der Predigt (aus dem Verkündigten), das Predigen aber durch das Wort Christi (des Christus)". Also nicht, wie oft ungenau zitiert wird: "das Predigen kommt durch das Wort Gottes". Gott selbst hat Wert darauf gelegt, dass wir das Wort seines Sohnes noch einmal als etwas qualitativ anderes als alle Worte der Propheten und als alle schönen Psalmen als sein göttliches Wort hören. Die andere Stelle findet sich im Kolosserbrief: "Lasst das Wort Christi (des Christus) reichlich unter euch wohnen" (Kolosser 3,16). Also eben nicht nur "Lasst das Wort Gottes reichlich unter euch wohnen", sondern ganz gezielt die Auswahl der "Worte des Christus".

 

Haltet euch an die, prägt sie euch ein, lasst sie verbindlich für euch sein! So ist es gemeint! Wir brauchen neue Hochachtung und neue Aufmerksamkeit für das Wort des Christus! Mir ist das - wie noch nie zuvor - bewusst geworden, als ich mir all die von den Evangelien-Berichterstattern überlieferten Jesus-Worte in ein Extra-Heft herausgeschrieben habe. Mit den ihm anvertrauten Worten hat Jesus uns Einblick gegeben in den Himmel, er hat uns mit diesen Worten die Welt Gottes erschlossen.

 

Auf die Auskünfte von Jesus ist felsenfester Verlass. Er ist "der treue Zeuge" (Offenbarung 1, 5). Mir ist im Lauf der Zeit aufgegangen: Immer dann, wenn etwa der Apostel Paulus diese Einleitung benützt "wir wissen" oder "ihr könnt doch wissen!" oder "ich bin gewiss", dann ist der Grund für solche felsenfeste, hundertprozentige Gewissheit ein Wort von Jesus. "Denn was ER spricht, das bricht er nicht. Er bleibet meine Zuversicht!" ER, Jesus!

 

Er will uns herausholen aus religiösen Unklarheiten. Vieles von dem, was er geklärt hat, müssen wir nicht erst lange vermuten, hoffen, glauben, und ganz eventuell für möglich halten. Vielmehr können wir gewiss sein, wir können und sollen gewiss wissen. Erst recht sollen wir wissen, "dass es ein Ziel gibt - und dass es sich lohnt" (Dr. Paul Humburg). Wir sollen gewiss sein gerade in dem, was mich einst Professor Dr. Lamparter wissen ließ, als er sagte: "Rolf, ich bin gespannt auf meinen Tod, was dann der Jesus erst recht an mir tun wird, der schon so viel an mir getan hat!"

 

Wir sollen gewiss werden, dass Jesus sich bei den Seinen dafür verbürgt hat: "Ich will wiederkommen und euch zu mir nehmen, damit ihr seid, wo ich bin" (Johannes 14,3). Zugleich sollen wir dabei mithören das Wort von Jesus, das aller billigen Zukunfts-Selbstverständlichkeit wehrt: "Ringt darum, dass  i h r  durch die enge Pforte hineingeht" (vgl. Lukas 13,24). Denn schon jetzt besteht das "Ziel" nicht erst in dem, was nach dem Sterben an unvorstellbarer Jesus-Gemeinschaft kommen kann. Sondern die erste wichtige Etappe hin zum endgültigen Ziel besteht im Ruf von Jesus: "Her zu mir!" "Folge mir nach!" Christen sind in erster Linie Leute, die von Gott "berufen sind zur Gemeinschaft mit seinem Sohn Jesus Christus, dem Herrn" (vgl. 1.Korinther 1,9).

 

 

Aufgepasst, wenn uns das Ziel "verrückt" werden soll

 

 

"Lasst euch von niemand das Ziel verrücken" (Kolosser 2,18). So heißt es beim Apostel Paulus (heute ist im revidierten Luthertext der Satz etwas anders wiedergegeben - und meint doch dasselbe: "Lasst euch den Siegespreis von niemand nehmen"- den Siegespreis bekommt eben der, der durchs Ziel geht, weil er sich nicht auf eine falsche Spur locken ließ und aus diesem Grund auch das Ziel nicht verpasste).

 

Dass falsche Spuren gelegt werden, das gehört von den Anfängen an zu den Erfahrungen der Gemeinde des Christus Jesus. Darum hat Jesus so eindringlich und ausdrücklich davor gewarnt, sich nicht verführen zu lassen (vgl. Markus 13,5f). Denn es kann sehr fromm aussehen, wenn uns das Ziel "verrückt" werden soll.

 

Damals in der ersten Christenheit gab es offensichtlich eindrucksvolle Gestalten, an denen man hinauf gesehen hat. Sie machten Eindruck, wenn sie sich unglaublich demütig gaben - in gut gespielter, aber raffiniert bedachter Frömmigkeit. Dabei haben sie, die sich so demütig gaben, sich erst recht als Lehrer der Christenheit aufgespielt. Sie wurden bewundert, wenn sie davon redeten, was nach dem ihnen exklusiv erklärten Willen Gottes "dran" ist (ich denke, es sei ähnlich gewesen wie heute, dass für die Passionszeit die gut gemeinten "sieben Wochen ohne!" proklamiert werden, wie wenn das ein 11. Gebot Gottes wäre). Eindrucksvoll! Sie haben ausgegeben: "Das sollst du nicht anfassen, das sollst du nicht kosten, das sollst du nicht anrühren" (vgl. Kolosser 2,21). Bei ihnen spielte die "Verehrung der Engel" eine ungeheure Rolle. Wahrscheinlich war es ähnlich wie heute bei uns, dass das wichtigste und bekannteste und meist geschätzte Bibelwort das Psalmwort war, das sogar der Teufel gern hat: "Der Herr hat seinen Engeln befohlen über dir, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen, dass sie dich auf den Händen tragen ..." (Psalm 91,11ff). Wenn ihnen - wie Jesus das getan hat - entgegen gehalten wurde "wiederum steht auch geschrieben", dann beriefen sie sich darauf: Uns hat der heilige Geist direkt etwas mitgeteilt! Lesen Sie einmal nach, wie der Apostel Paulus diese frommen Verführer skizziert hat (vgl. Kolosser 2,16-23). Da hinein in diese fromm aussehende Verwirrung macht der Apostel deutlich: Das alles sind wabernde Schatten. Konkret, leibhaftig ist das, was wirklich Zukunft hat, Christus! Er, nichts anderes (vgl. Kolosser 2,17).

 

Die sich fromm gebende Verführung ist immer die gefährlichste Verführung. Nichts hat 1933 auch die Mehrzahl der evangelischen Christen Hitler unterstützen lassen als seine ins Parteiprogramm aufgenommene Parole vom "positiven Christentum", das zu unterstützen er willens sei. Auch heute gibt es gut gemeinte, wohltuend klingende und doch verführerische Parolen.

 

Erst jüngst hörte ich eine eindrucksvolle Predigt, die unter das Thema gestellt war: "Den Glauben alltags-tauglich leben!" Der Predigt war abzuspüren, dass gerade junge Christen sich danach sehnen: Unser gerade aufkeimender Glaube muss und soll doch auch etwas mit unserem normalen Leben zu tun haben! Was wir singen und beten, muss doch etwas zu tun haben mit dem Sprachstil unserer Tage; es muss zu tun haben mit den Problemen, die unsere tagtägliche Welt prägen! Wir wollen doch mit unserem Glauben auch verändernd und hilfreich in unsere heutige Welt hinein wirken!

 

Aber auch ältere Menschen bekommen schmerzhaft mit, dass die Gottesdienste, ja auch die Gemeinschafts­Stunden leider immer leerer werden. Und zu schnell kommen wir zu dem Schluss: Das Betrübliche hat seinen Grund darin, dass dort Dinge verhandelt werden, die mit unserer gegenwärtigen Weltlage und mit dem alltäglichen Leben nichts zu tun haben. Es werden schwer verständliche Texte besprochen, über die viele unserer Zeitgenossen nur verständnislos den Kopf schütteln können. Und die Lieder! Und die Sprache, die benützt wird!

 

Peinlich ist aber nicht nur die offenkundige Armseligkeit der Gottesdienste und der meisten der anderen Zusammenkünfte der Christen. Vielmehr ist es der ganze Christenglaube, der sogar nicht wenigen ernsthaften Christen verstaubt vorkommt, wie "von vorgestern": All die biblischen Geschichten, erst recht die unverständlichen Dogmen, die biblische Sprache und die Sprache der Gesangbuch-Choräle. Es hat sich in der Christenheit sogar weithin - eigentlich mehr als nur erschreckend - eingeschliffen, dass sich Christen genieren, von Jesus zu reden: denn das kommt ihnen bigott, frömmlerisch, pietistisch, evangelikal, fundamentalistisch vor; schließlich genüge es doch - wie sie meist sagen -, von "Gott" zu reden, oder von Werten, vom Religiösen, vom "Glauben" Wir genieren uns oft, den eigentlichen Inhalt unseres Glaubens, die eigentlichen Konturen, das Besondere unseres Christus­Glaubens zur Sprache zu bringen (sogar vor Kindern, Ehegatten und Enkeln, erst recht in unseren Gratulations­ und Kondolenzbriefen), weil wir wähnen, das habe doch so absolut gar nichts mit unserer Welt und mit deren Alltag zu tun. Mit der Welt also, von der die Medien berichten, in der wir leben und wirken, die uns umgibt wie die Luft zum Atmen. Jedoch ist eine Christenheit, die sich geniert, von Christus zu reden, - verständlicherweise, aber eben zutiefst bedauerlicherweise – "verrückt" worden. Sie ist von ihrem eigentlichen Ziel abgelenkt worden.

 

 

Wir haben nicht zu wenig, sondern viel zu viel Alltag - und viel zu wenig Verbundenheit mit Christus

 

 

Unser Christen-Glaube wirkt sich doch darum so wenig im Alltag aus, weil wir    v i e I   z u   w e n i g   Verbindung mit Jesus haben,  v i e I   z u   o b e r f I ä c h I i c h e   Beschäftigung mit seinen Worten und mit der ganzen Bibel,  v i e I   z u   w e n i g   Leben mit Jesus vor Gott.

 

Lassen Sie mich's versuchen, diese komisch scheinende Diagnose an einem etwas dummen Beispiel zu verdeutlichen. Seit Jahren hat man bei mir den typischen Alters-Zucker festgestellt. Der Arzt hat mich eingestellt mit Tabletten. Das hat lange Zeit hingehauen. Aber nun bin ich noch älter geworden, offenbar genügt das eine kleine, runde, weiße Tablettchen pro Tag nicht mehr. Wenn ich mich piekse, dann sind die Blutwerte so schlecht, dass ich sagen könnte: "Die Medizin wirkt sich einfach kaum aus; vielleicht wird alles besser, wenn ich sie möglichst selten einnehme und evtl. ganz weglasse!" Das wäre doch genau das Falsche. Andersherum wird alles richtig! Ich muss die Dosis der Medizin erhöhen, verdoppeln, verstärken, damit sie sich überhaupt auswirken kann!

 

Das ist ein Vergleich. Vielleicht reden besser und überzeugender die Fakten. Lassen Sie mich an eine nachprüfbare Erfahrung aus der Geschichte unseres Landes erinnern, als an ein konkretes Beispiel: Nämlich an den viel verlachten, viel geschmähten, viel abgewerteten württembergischen Pietismus. Denn ich kenne keine andere Erneuerungsbewegung in der evangelischen Christenheit, die so viel Belebung ausgelöst hat wie dieser so oft verdummte schwäbische Pietismus. Wie hat man die "StundenIeute" lächerlich gemacht! Man hat sie karikiert als die Super-Frommen, als die Frömmler, als die Mucker, als die Scheinheiligen, als die Bigotten, als die Selbstgerechten, als die Weltfremden, und was sonst auch immer! Dabei hat der Pietismus, also die kleinen Gruppen der Stundenleute, in ungeahnter Weise die Welt verändert, gerade bei uns in Württemberg. Wer nicht mit Scheuklappen leben will, muss das einfach als Fakt feststellen: Der Pietismus hat die evangelische Weltmission als Aufgabe erkannt und angepackt - und uns im engen Württemberg dadurch den Horizont weit geöffnet! Ins Leben gerufen wurden Rettungsanstalten, Diakonissenhäuser, Bergungs- und Hilfseinrichtungen für Blinde, Taube, für Behinderte aller Art, auch Alkoholiker, Schwer-Erziehbare, Kleinkinderpflegen - alles mit dem Scherflein der armen Witwe - auch Mitarbeiter. Nicht genug: Sogar Professor Leibinger, ja der ehem. Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger haben es wissenschaftlich festgestellt und dargestellt: Das arme Württemberg, das Armenhaus Deutschlands, wurde zum Musterländle - durch den Pietismus. Christen anderer Landeskirchen staunen geradezu neiderfüllt auf unsere Zahl der ehrenamtlichen Mitarbeiter, Opferaufkommen, Jugendarbeit, Posaunenarbeit, Mädchenarbeit, Weltmission. Kiesinger hat etwas befremdet festgestellt: "Eigentlich ist nirgends dafür ein Programm erkennbar". Nein, da war eine geheimnisvolle Kraft. Ähnliches könnte man von den Menschen sagen, die in der Hitlerzeit als Jungscharler nichts als Bibelarbeit treiben durften; sie waren nachher fähig zu mutigem Einsatz beim Wiederaufbau von Kirche und Staat.

 

"Gottes Licht soll leuchten vor den Leuten!" Um dieses Zieles willen darf die Dosis des belebenden Medikamentes nicht verringert werden. Sie muss vielmehr erhöht werden. Wir brauchen mindestens ebenso viele Eindrücke aus der Welt Gottes wie aus dem Fernsehkasten!

 

 

"Lass mir das Ziel vor Augen bleiben!"

 

 

Es ist immer gefährlich, mit vordergründig einleuchtenden Parolen und Schlagworten zu jonglieren. Diese Gefahr hat es auch schon in der allerersten Christenheit gegeben. Das war der Grund, weshalb der Apostel Paulus in Sachen "Auferstehung" hinein in das seinerzeitige ganze Geflecht von Schlagworten und Emotionen, von "ich meine" und "aber ich sehe das so an!" schrieb: "Werdet doch einmal recht nüchtern" (vgl. 1.Korinther 15,34)!

 

Das gilt auch angesichts der scheinbar so einleuchtenden Parole: Unser Glaube muss viel mehr in den Alltag hinein! Statt des undeutlichen und vieldeutigen Begriffs "Glaube" sollten wir bewusst reden von unserer "Verbindung mit Jesus" (vgl. 1.Korinther 1,9). "Glaube" ist nicht einfach die religiöse Ader, die jeder Mensch unausrottbar irgendwo in sich eingebaut hat. Das Religiöse ist nicht einfach ein spezielles Fächle in unserem Denken. Unser Glaube besteht vielmehr darin: Gott will, dass wir Menschen Jesus haben und mit ihm verbunden sind. Denn ohne diesen Retter wäre unsere ganze Existenz sinnlos, aussichtslos, zum Scheitern vor Gott verurteilt.

 

Ich möchte, solange ich noch kann, Mut machen dazu: Lasst euch doch von niemand das Ziel verrücken! Lasst euch doch nicht vom Ziel wegtreiben: Mehr Jesus-Verbundenheit! Tieferes Gegründet-Sein in der Wahrheit, die Jesus in unsere Welt gebracht hat. Noch einmal ganz neu sich erfassen lassen von dem Bewusstsein: "Mein Jesus ist mein Ehre, mein Glanz und schönstes Licht!" Es soll doch wahr werden: "So lebe ich nun - doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir!" In die Alltagswelt will Christus hinein. Ja, sicher! Er will mit uns hinein, ja! Aber der Leitsatz von Johann Christoph Blumhardt lautet nicht umsonst eben so: "Mit uns will  C h r i s t u s  in die Welt hinein!"

 

"AIItagstauglich" ist unser Glaube dann, wenn wir in der Christus-Wahrheit gegründet, von Jesus-Gegenwart durchdrungen, vom unsichtbar-gegenwärtigen Jesus geleitet und von Jesus-Barmherzigkeit geprägt sind. "Nicht ich, sondern Christus!"

 

 

Wir brauchen Glaubensstärkung!

 

 

Ich brauche Glaubensstärkung, wenn ich dranbleiben soll am "Ausstrecken nach dem, was vorne ist" (vgl. Philipper 3,13). Zum Dranbleiben müssen sich Christen ganz bewusst bereiten lassen. Die Zusammenkünfte der Christen haben darin ihren ersten Sinn. Sie sollen gezielt dazu helfen wollen, dass Christen nicht "abfallen" müssen. Es wird in unseren heutigen Zusammenkünften von Christen zu viel Zeit damit vertan, sich mit Themen abzugeben, die nicht bestimmt sind von dem Ernst: "Ringt darum", "Jaget nach dem Ziel" (vgl. Philipper 13,14)!

 

Wir sollten uns in unseren Kreisen, Gemeinden und Gruppen anstecken lassen von der heiligen Entschlossenheit unseres Herrn Jesus: "Ich will nichts verlieren! Nicht einen einzigen Menschen! Alle, die mir der Vater gegeben hat, sollen doch auch zum ewigen Leben kommen. Sie sollen sich nicht vorher ausklinken!"

 

Wir sollten es darum den Angefochtenen in die Ohren und ins Herz schreien: "Das ist der Wille Gottes, der Jesus gesandt hat, dass er nichts verliere von allem, was er ihm gegeben hat" (vgl. Johannes 6,39). Gott ist es, der will, dass keines am Ziel vorbeitreibt! Auch keines von uns. "Jesu, richte mein Gesichte nur auf jenes Ziel. Lenk die Schritte, stärk die Tritte, wenn ich Schwachheit fühl! .... Du musst ziehen, mein Bemühen ist zu mangelhaft. Wo ihr's fehle, fühlt die Seele; aber du hast Kraft, weil dein Wort das Leben bringt!"

 

 

 

Anmerkung: Dieses Referat wurde von Prälat i.R. Rolf Scheffbuch ausgearbeitet als Manuskript für eine biblische Besinnung an der Herbsttagung der Vereinigung Christen im öffentlichen Dienst (CÖD) am 10.11.2012 in Korntal. Er konnte den Vortrag nicht mehr halten, da er in der vorhergehenden Nacht überraschend heimgerufen wurde.